Mechtild Lutze ist schon viel herumgekommen. 2005 hat sie eine Weltreise gemacht, einmal quer durch die USA, weiter in die Südsee und von Australien zurück nach Deutschland. In Afrika war sie mehrmals, ihre letzte Fernreise ging nach Kanada zu einer alten Freundin. Doch das ist bald fünf Jahre her. Kürzlich hat Lutze nachgerechnet, wie viel CO2 sie auf ihren Reisen in den vergangenen 30 Jahren ausgestoßen hat: 74 Tonnen. "Da habe ich mich erschrocken", sagt die 62-Jährige. Heute reist Lutze immer noch viel, aber nicht mehr mit dem Flieger. Letztes Jahr fuhr sie mit dem Rad durch Brandenburg und mit dem Zug nach Konstanz, auch der Umwelt zuliebe. Damit kommt sie für ihre Reisen im vergangenen Jahr auf nur 0,11 Tonnen CO2.

Klimaneutral leben: Das heißt, den persönlichen CO2-Fußabdruck auf null zu reduzieren. Und das nicht nur bei der Mobilität, sondern in allen Bereichen des Lebens. Ein Ziel, von dem Deutschland kaum weiter entfernt sein könnte. Der Durchschnittsbürger isst laut Daten des Umweltbundesamts gern Fleisch, kauft sein Obst am liebsten im Supermarkt und greift auch im Winter mal zu Erdbeeren. Allein bei der Ernährung produziert er so rund 1,75 Tonnen CO2 im Jahr. Ist er Single, lebt er im Schnitt in einer 63-Quadratmeter-Wohnung und heizt mit Erdgas, aus seiner Steckdose kommt konventioneller Strom. Das produziert weitere 2,40 Tonnen CO2. Dabei hat der Durchschnittsdeutsche noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt und keine Kleidung gekauft. Auch das produziert Unmengen an Kohlendioxid.

Im Durchschnitt verursacht Otto Normalverbraucher laut CO2-Rechner des Umweltbundesamts so rund 11,6 Tonnen CO2 im Jahr. Andere Erhebungen wie die der Internationalen Energieagentur (IEA) gehen von 8,9 Tonnen pro Kopf und Jahr aus. Laut IEA produzieren die Deutschen damit mehr Kohlendioxid als Chinesen, Inder, Franzosen oder Briten. Klimaforscher fordern deshalb, den Pro-Kopf-Ausstoß in Deutschland auf maximal zwei Tonnen pro Jahr zu begrenzen, das Umweltbundesamt spricht sogar von einer Tonne. Das wäre eine Reduktion um mehr als 80 Prozent. Nur so könne Deutschland dazu beitragen, den weltweiten Temperaturanstieg wie im Pariser Klimaabkommen vereinbart unter der Marke von zwei Grad zu halten. Die Bundesregierung hat sich ein noch ambitionierteres Ziel gesetzt. Bis 2050 soll Deutschland klimaneutral werden, verkündete Kanzlerin Angela Merkel. Über den Weg dorthin müsse diskutiert werden. Die Diskussion solle aber "nicht heißen, ob wir es erreichen können, sondern wie können wir es erreichen".




Was schafft der Einzelne?

Mechtild Lutze gehört zu den wenigen Bundesbürgern, die schon heute nach diesem Ziel leben - oder es zumindest versuchen. Im vergangenen Jahr nahm sie mit 99 anderen Haushalten am Projekt "Klimaneu­tral leben in Berlin" (KliB) des Potsdam-­Instituts für Klimafolgenforschung teil, einer Art Klimaschutz-Feldversuch unter realen Lebensbedingungen. Zwölf Monate lang versuchten die Teilnehmer, ihren CO2-Fußabdruck so weit wie möglich zu senken, und zwar mit profes­sioneller Unterstützung. Jeden Sonntag dokumentierten die Probanden, wie sie in der vergangenen Woche gelebt haben, welche Lebensmittel sie gekauft haben, wie weit sie Auto gefahren und ob sie mit dem Flugzeug geflogen sind. Für die Wissenschaftler war es der Lackmustest: Was kann der Einzelne in einem hoch­industrialisierten Land wie Deutschland überhaupt leisten, um das Klima zu schützen? Wo stößt er an seine Grenzen? Wie lassen sie sich überwinden?

Lutze lebt im wärmegedämmten Altbau in einer 48-Quadratmeter-Wohnung, isst kein Fleisch, kauft in Bioläden, bevorzugt regionale Produkte und fährt am liebsten mit dem Fahrrad. Im Winter schaltet sie den Kühlschrank ab und stellt die Lebensmittel auf den Balkon. Vor Projektstart kam sie damit auf einen CO2-Ausstoß von 5,63 Tonnen im Jahr.

Zusammen mit den Potsdamer Forschern entdeckte die Berlinerin tatsächlich noch einige Stellschrauben, die ihre CO2-Bilanz nach unten drückten. ­Ihre Heizung, vormals auf Erdgas-Basis, stellte sie auf umweltfreundliches Biogas um: macht 0,2 Tonnen Ersparnis. Außerdem ernährte sie sich vegan, was noch mal 0,07 Tonnen einsparte. Denn auch Eier und Milchprodukte sind alles andere als klimafreundlich. Das größte Einsparpotenzial ermittelten Forscher und Probandin beim Konsum: Weil sich Lutze im gesamten Jahr nur zwei Kleidungsstücke kaufte und die auch noch secondhand, sank ihre CO2-Bilanz in diesem Bereich um rund eine Tonne: von 2,76 auf 1,76. Am Ende des Jahres hatte Lutze ihren CO2-Fußabdruck insgesamt um fast zwei Tonnen reduziert - auf jetzt 3,85 Tonnen. Von allen untersuchten Berliner Haushalten war das der niedrigste Wert.

Das ist bemerkenswert. Und dennoch etwa doppelt so viel wie das von Klimaforschern ausgegebene Ziel von maximal zwei Tonnen. Wenn selbst die Siegerin im Reallabor-Experiment die entscheidende Zwei-Tonnen-Marke verfehlt, wie realistisch ist das Ziel dann überhaupt?

Die Politik ist gefragt

Seraja Bock ist Umweltethiker am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und hat das Experiment in Berlin mitbetreut. In der Studie konnten die KliB-Teilnehmer ihren CO2-Fußabdruck um etwa zehn Prozent senken und landeten so im Schnitt bei 7,8 Tonnen pro Kopf - rund 35 Prozent besser als der deutsche Durchschnitt, aber rund das Vierfache der geforderten zwei Tonnen. Laut Bock ist das der Wert, der für jeden Bürger leicht erreichbar ist, ohne an Lebensqualität einzubüßen. "Das ist schon mal eine ganze Menge", sagt er. Doch alles darüber hinaus gehe nur mithilfe der Politik. Die Regierung müsse die nötige Infrastruktur schaffen, um einen klimafreundlichen Alltag für jedermann zu erleichtern, sagt Bock und listet auf: raus aus der klimaschädlichen Kohle, mehr Förderung für Ökobauern und eine bessere Verkehrsinfrastruktur.

Doch selbst wenn Bioprodukte, Bus und Ökostrom für Bürger alternativlos wären, blieben Emissionen, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat. Auch der Staat produziert Treibhausgase, die auf jeden Bürger umgelegt werden. Schulen, Krankenhäuser, selbst die Straßenbeleuchtung tragen dazu bei. Das Umweltbundesamt veranschlagt für den Posten "öffentliche Emissionen" pauschal 0,72 CO2-Tonnen pro Kopf. Und zwar unabhängig davon, ob der Einzelne so sparsam lebt wie Mechtild Lutze oder ob er jede Woche mit dem Auto von Köln nach München rast oder sogar fliegt.

Um bis 2050 klimaneutral zu werden, sind daher auch die Städte und Kommunen in der Pflicht. Seit die Schwedin Greta Thunberg vor 20 Monaten zum globalen Klimastreik aufrief, präsentieren sich diese immer häufiger von ihrer grünen Seite. Im Mai rief Konstanz als erste deutsche Stadt den "Klimanotstand" aus und verkündete, bei jeder Entscheidung auch auf die Klimabilanz zu achten. Kritiker sehen dahinter zwar eine große Portion Symbolpolitik, schließlich steckt hinter dem dramatischen Begriff nur eine freiwillige Selbstverpflichtung ohne rechtliche Bindung.

Nichtsdestoweniger haben neben Konstanz bereits Dutzende weitere Städte den Klimanotstand ausgerufen, darunter Köln, Düsseldorf, Kiel, Saarbrücken, Bochum und Gelsenkirchen.

An der Realität gescheitert

Das Problembewusstsein scheint vorhanden. In der Praxis stoßen Städte, die es mit dem Klimaschutz ernst meinen, aber oft auf erhebliche Widerstände. Das zeigt das Beispiel Sprendlingen-Gensingen. Schon vor etwa zehn Jahren entschied die Verwaltung der rheinhessischen Verbandsgemeinde, ihren CO2-Fußabdruck radikal zu senken. Gemeinsam mit der Fachhochschule Bingen arbeitete sie einen Plan aus, um die Emissionen bis 2050 gegenüber 1990 um 95 Prozent und den Energieverbrauch um die Hälfte zu drücken. Anfangs ging die lokale Energiewende schleppend voran: Der Versuch, auf breiter Front Windkraftanlagen zu installieren, scheiterte an Naturschutzbedenken.

Deshalb stattete die Gemeinde sämtliche Gebäude der öffentlichen Verwaltung mit Photovoltaik-Anlagen aus, doch zunächst ohne offizielle ­Genehmigung der Netzbetreiber. "Die Energieversorger haben kein Interesse daran, dass jeder einspeist, wie er will", sagt Andreas Pfaff von der kommunalen Energieagentur in Sprendlingen-Gensingen. Deshalb hätten sich die Versorger lange gegen deren Bewilligung gesträubt. Inzwischen sind sie aber genehmigt und speisen nicht nur die öffentliche Ver­waltung mit sauberer Energie. Auch viele Bürger haben Solaranlagen auf ihren ­Dächern gebaut, gefördert von der Gemeinde. Der Maßnahmenkatalog von Sprendlingen-Gensingen ist gut 200 Seiten lang, vieles davon hat die Gemeinde bereits umgesetzt. So leuchten heute rund 80 Prozent der Straßenlaternen mit sparsamen LEDs, in den Verwaltungs­gebäuden und in den Schulen kommen die Leuchten flächendeckend zum Einsatz. Als Nächstes möchte die Stadt den gesamten Altbaubestand in den Ortskernen auf Wärme aus regenerativen Energien umstellen. Sie soll vor Ort erzeugt und verbraucht werden, ein komplexes und teures Unterfangen.

Geld erhält die Gemeinde unter anderem vom Bund, als sogenannte "Masterplan"-Kommune sind es seit 2016 rund 287 Millionen Euro. Doch das reicht nicht, um die ehrgeizigen Pläne zu finanzieren. Die Kommune bewirbt sich deshalb um weitere Förderungen, ein "frustrierender Prozess", sagt Energieberater Pfaff. Ihn wurmt, dass man viele Programme nicht kombinieren kann. Wer zum Beispiel vom Bund Geld für die Umstellung auf saubere Energie erhält, geht bei entsprechenden Förderprogrammen der Länder oft leer aus. Finanziell ist das Vorhaben für die Kommune bislang bestenfalls ein Nullsummenspiel. Wer die Umwelt schützen möchte, muss also bereit sein, Geld, Zeit und Nerven zu investieren. Bislang ist das bei Städten, aber auch bei Regierungen und Bürgern nur sehr selten der Fall.

Eine Mammutaufgabe

So dürfte das große deutsche Ziel, die Emissionen um mindestens 80 Prozent zu senken, erst einmal kaum zu erfüllen sein. Resignieren wollen die Vorreitern der Bewegung aber nicht. Sie betonen, dass ein klimabewusstes Leben nichts mit Verzicht zu tun hat, sondern im Gegenteil ein Mehr an Lebensqualität bedeuten kann. So können neue Technologien umweltfreundlich sein und zugleich den Komfort des Einzelnen erhöhen. "Eine Wärmepumpen-Heizanlage zum Beispiel kann die Wohnung nicht nur im Winter heizen", sagt Pfaff, ganz in seinem Element als Energieberater, "sondern auch an heißen Tagen kühlen."

Mechtild Lutze, die Siegerin im Klimaschutz-Experiment, spricht gern von ­einem bewussteren Leben. "Es geht darum, sich zu fragen, was man wirklich braucht und was nicht. Etwa: Brauche ich Fleisch? Oder: Macht mich diese Reise glücklich?" Die vegane Ernährung hat sie wieder aufgegeben, weil Quark und Milch ihr "einfach zu gut schmecken", wie sie sagt. In ein Flugzeug wird sie dagegen erst mal nicht mehr steigen. Fürs nächste Jahr hat sie eine Reise durch ­Europa geplant - mit Bus und Bahn.



Die Flugscham mit Spenden kompensieren


Flug gebucht, Klima geschädigt: Bei vielen Urlaubern reist das schlechte Gewissen mit. CO²-Kompensationsanbieter wie Atmosfair oder Myclimate versprechen Abhilfe. Wie der Ausgleich des CO²-Fußabdrucks funktioniert und was die Kompensation kostet.

In Schweden gibt es ein Wort für die, die sich schlecht fühlen, weil sie einen Flieger besteigen: "flygskam", eine Neukrea­tion aus den schwedischen Wörtern für Flug und Schande. Das Wort ist auch in Deutschland längst ein Begriff. Immer mehr Bürger leiden unter Flugscham. Sie wissen, dass Flugreisen schlecht fürs ­Klima sind, und können doch nicht darauf verzichten. Firmen wie Atmosfair, Arktik oder Myclimate haben daraus ein Geschäft gemacht. Sie werben damit, klimaschädliche Aktivitäten wie Flugreisen oder Kreuzfahrten gegen eine Spende zu kompensieren.

Das Prinzip: Die Menge an ausgestoßenem CO² soll mit dem Geld an anderer Stelle eingespart werden, etwa durch ­Investitionen in klimafreundliche Projekte. Wer will, kann sogar seinen gesamten ­Jahresausstoß an CO² kompensieren. Die Kosten dafür liegen zwischen 174 und 278 Euro (siehe Kasten). Die Höhe der Summe hängt von den Projekten ab, mit denen die Anbieter die CO²-Sünden der Kunden ­ausgleichen - und dem Engagement, das sie dort hineinstecken, also ob sie das Geld nur überweisen oder selbst vor Ort aktiv sind.

Die meisten Anbieter stecken die Spenden in Projekte in Entwicklungsländern. Myclimate, eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in der Schweiz, überweist das Kapital unter anderem an Landbesitzer in Fidschi, die sich für den Schutz des dortigen Regenwaldes einsetzen. Die Berliner Organisation Atmosfair ­finanziert zum Beispiel den breit angelegten Bau effizienterer Öfen in Nigeria, die 80 Prozent des bisher benötigten Brennholzes einsparen. So soll nicht nur die CO²-Bilanz um 31 000 Tonnen pro Jahr sinken, sondern auch die Lebensqualität der Menschen steigen, verspricht der Anbieter. Auffors­tungen von Wäldern haben dagegen nur wenige im Programm. Denn Bäume pflanzen gegen den Klimawandel ist unter Wissenschaftlern umstritten: Wenn sie wachsen, binden Bäume zwar das CO² aus der Luft. Werden sie aber abgeholzt oder verbrennen, wird wieder Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre freigesetzt. Wer sich für eine Kompensation interessiert, sollte da­rauf achten, dass die Projekte durch unabhängige Prüfer zertifiziert sind. Die bekanntesten Siegel sind der Clean Development Mechanism der Vereinten Nationen und der Gold Standard des WWF. Der Gold Standard bescheinigt den Projekten neben der positiven Wirkung auf die CO²-Bilanz auch soziale Effekte. Kritiker bezeichnen die Kompensationen als modernen Ablasshandel. Durch die Zahlungen werde nicht weniger CO² ausgestoßen und die Emissionen an anderer Stelle lediglich reduziert. Michael Bilharz ist Klimaexperte beim Umweltbundesamt und Befürworter von Kompensationsanbietern. Er sagt aber: "CO²-Emissionen zu kompensieren ist immer nur die drittbeste Möglichkeit." Besser sei es, zum Beispiel weniger zu fliegen oder gleich ganz darauf zu verzichten.