Hillary Clinton könnte allerdings berichten, dass gute Wahlumfragen nicht den Sieg bei den Wahlen garantieren: Im Jahr 2016 hat Trump trotz eines deutlichen Rückstands in den Wahlumfragen in Michigan mit 0,2 % und in Pennsylvania und Wisconsin mit 0,7 % der Stimmen Vorsprung gewonnen und die Präsidentschaftswahl für sich entschieden. Parallel zur Wahl des Präsidenten stehen auch 35 von 100 Sitze des Senats und alle 435 Sitze des Repräsentantenhauses zur Abstimmung. Ein "Blue Sweep", demokratische Mehrheiten bei den Präsidentschaftswahlen und in beiden Kammern des US-Kongresses, würden es den Demokraten ermöglichen, weitreichende wirtschaftspolitische Reformen durchzusetzen.

Die Wall Street hat einen möglichen Sieg Bidens lange kritisch beargwöhnt, da die Demokraten angekündigt haben, weite Teile des 2017 verabschiedeten "Tax Cuts and Jobs Act (TCJA)" aufzuheben und die Steuern zu erhöhen. Und in der Tat, die von Biden angekündigten Steuererhöhungen werden - wenn sie denn durchgesetzt werden - dazu führen, dass die Gewinne des S&P 500-Index um rund 9 % einbrechen werden. Keine gute Zeit für Aktionäre, da die Börsen angesichts der historisch niedrigen Zinsen bereits stark gestiegen und nach gängigen fundamentalen Bewertungskennziffern derzeit teuer bewertet sind. In den letzten Wochen hat sich die Einschätzung der Marktbeobachter geändert. Die Hoffnung lautet nun, dass Joe Biden nach der Amtseinführung im Januar 2021 rasch ein Stimulus-Programm von 2 bis 3 Billionen US-Dollar auf den Weg bringen wird. Die von der Covid-Krise geschüttelte Wirtschaft soll durch weitere Fiskalprogramme gestützt werden, obwohl mit dem "Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security (CARES) Act" bereits Hilfen von über 2 Billionen US-Dollar beschlossen wurden.

Infolge der Covid-Rettungsmaßnahmen explodiert das Haushaltsdefizit in den USA und steigt auf über 3,3 Billionen US-Dollar in diesem Jahr, mehr als dreimal so hoch wie im Jahr 2019. In den USA wird die Gesamtverschuldung zum Bruttosozialprodukt dieses Jahr auf über 140 % steigen. Zudem wird das Leistungsbilanzdefizit der USA dieses Jahr - trotz Protektionismus und Handelskrieg - weiter steigen. Bei Zwillingsdefiziten erfolgt die Anpassung oftmals über die Währung. Der US-Dollar, die wichtigste Reservewährung der Welt, wird vermutlich schwach tendieren. Für eine Abwertung des US-Dollars spricht auch die geringere Zinsdifferenz zum Euroraum infolge der jüngsten Zinssenkungen in den USA. Unter Biden wird die US-Außenpolitik neu ausgerichtet: Wiederbeitritt zum Pariser Klimaabkommen, weitere Mitgliedschaft in der WHO, möglicherweise Erneuerung des Nuklearabkommens mit dem Iran, kurz: Multilateralismus statt "America first". Die Euphorie, dass die von Trump eingeführten Zölle und Handelsbeschränkungen unter einem neuen US-Präsidenten rasch abgebaut werden, könnte freilich enttäuscht werden. Das Misstrauen gegenüber China ist in beiden Parteien in den letzten Jahren stark gewachsen. Der Streit um die technologische Führerschaft, die Konfrontation im südchinesischen Meer und die Diskussion um Hongkong werden uns erhalten bleiben.

Biden schlägt hohe Investitionen in Bildung, in die Infrastruktur und in erneuerbare Energien vor. Diese Sektoren werden nach einem möglichen Wahlsieg Bidens zumindest temporär florieren. Genauso wie die großen Technologieunternehmen, Rüstungsunternehmen und die kohlebasierte Energieerzeugung von Trump profitierten. Biden möchte mehr Menschen den Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem ermöglichen. Im Gegenzug sollen die Kosten des Gesundheitssystems über geringere Medikamentenpreise gesenkt werden, worunter Pharmaunternehmen leiden könnten. Zyklische Unternehmen hingegen werden vermutlich positiv auf die Inflationierung der Wirtschaft infolge der hohen Ausgabenprogramme reagieren.