Es geht um die Abkehr von einem jahrzehntealten Grundprinzip des Rentensystems. Die Verhandler einer Ampelkoalition haben vereinbart, dass die gesetzliche Rentenversicherung einen Teil ihrer Mittel am Kapitalmarkt anlegen darf. Hintergrund ist der Wunsch, die langfristig hohen Aktienrenditen zu nutzen.
Seit 1957 herrscht das Umlageprinzip: Die Rentenversicherung reicht Beiträge und Steuerzuschüsse sofort an Ruheständler weiter. Mit Aktien und Festverzinslichen hat das nichts zu tun - bisher. "In einem ersten Schritt", so steht es im Sondierungspapier von Mitte Oktober, solle die Rentenversicherung 2022 zehn Milliarden Euro aus Steuermitteln erhalten, um in eine Kapitaldeckung einzusteigen (zum Vergleich: 2020 hat die Rentenversicherung 330 Milliarden Euro eingenommen). Der Vorschlag stammte von der FDP.
Wie viel Geld dazukommen soll, ob auch Rentenbeiträge abgezweigt werden sollen und wie die Auszahlung laufen soll, ist offen. Details sind zu erwarten, wenn - wie angekündigt - in der kommenden Woche ein Koalitionsvertrag vorgelegt wird.
Vermutet wird, dass sich die FDP mit ihrer Forderung durchsetzt, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer je einen Prozentpunkt des Rentenbeitrags von derzeit 18,6 Prozent in die Kapitaldeckung einzahlen.
Schon jetzt läuft eine rege öffentliche Diskussion über diese Pläne. Wenig überraschend ist der Widerstand von Gewerkschaften, Sozialverbänden und der Partei Die Linke. Sie sind traditionell gegen staatlich unterstützte Aktieninvestments - unter anderem, weil dem aus ihrer Sicht bewährten Umlagesystem wertvolle Mittel entzogen würden.
Allerdings äußern sich auch Vordenker von Rentenreformen kritisch. Etwa Bert Rürup, der jene Kommission leitete, die zur Jahrtausendwende die Einführung der Riester-Rente empfahl. "Vergessen Sie’s", sagte er gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" zum FDP-Vorschlag. "Denn dann würden ausgerechnet in den kritischen Jahren die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenkasse nur noch größer."
Jüngere doppelt belastet
Zur niedrigen Geburtenrate komme ab Mitte des laufenden Jahrzehnts noch das Problem, dass die Babyboomer der Fünfziger- und Sechzigerjahre in Rente gehen. Nur auf lange Sicht sei eine Aktienrente sinnvoll.
Ähnlicher Ansicht ist der Wirtschaftswissenschaftler Axel Börsch-Supan, Mitglied der Rentenkommission der scheidenden Bundesregierung. "Bei der Aktienrente bezahlt eine Generation ein, und dieselbe Generation bekommt ihr Geld auch wieder zurück, wohingegen beim Umlageverfahren die junge Generation die ältere finanziert", sagte er dem "Tagesspiegel". Die Jüngeren müssten im Falle einer teilweisen Kapitaldeckung also doppelt zahlen, so Börsch-Supan. Deutschland hätte, so wie Schweden, eine Aktienrente bereits in den 1990er-Jahren starten sollen, kritisiert der Ökonom.
In dem skandinavischen Land werden 2,5 Prozentpunkte des gesetzlichen Rentenbeitrags an der Börse investiert. Das Geld geht bis zum 55. Lebensjahr vollständig in Aktien, danach wird schrittweise in Zinstitel umgeschichtet. So sollen mögliche Kurseinbrüche kurz vor dem Ruhestand abgefedert werden. Ausgezahlt wird schließlich ein gleichbleibender Rentenzuschlag.
Positiv zu den Ampelplänen äußert sich Martin Werding, Rentenfachmann an der Ruhr-Universität Bochum. "Es wird kein günstigerer Zeitpunkt mehr kommen", sagte er der "Zeit". Denn die Schieflage - wenig Junge, viele Alte - bleibe ein Dauerproblem.
Werding hat den FDP-Vorschlag durchgerechnet. Er glaubt, dass er durchaus finanzierbar wäre - ohne extrem hohe Belastungen für die Jüngeren. Ab 2040 würde dies ein steigendes Rentenniveau ermöglichen. Unterstellt sind dabei allerdings ergänzende Maßnahmen, etwa zeitweilig höhere Bundeszuschüsse und eine vorübergehende Senkung des Rentenniveaus.