Nach vielen Monaten des erzwungenen Konsumverzichts warten die Menschen nur darauf, wieder reisen zu können, ins Kino zu gehen oder mal wieder eine ausgedehnte Shoppingtour zu unternehmen. Das Geld dafür ist vorhanden. Allein in den USA sind unseren Berechnungen zufolge mindestens 1,5 Billionen US-Dollar an Überersparnis zusammengekommen. Das sind fast sieben Prozent der US-Wirtschaftsleistung. Insofern scheint die Debatte um eine bevorstehende Inflation gerechtfertigt - jedoch nur auf den ersten Blick. Denn statt von einer Inflation sollte man besser von Reflation sprechen.

Obwohl es sich bei beiden um einen Anstieg des Preisniveaus handelt, ist Reflation nicht mit Inflation gleichzusetzen. Von Letzterer spricht man, wenn sich aus einer Normalsituation heraus der Preisanstieg breit und dauerhaft beschleunigt. Der Preisanstieg erfolgt über einen langfristigen Trend hinaus, der in dieser Form nicht gewünscht ist. Man könnte auch von einem "bösen" Preisdruck sprechen. Reflation ist dagegen, wenn sich die Preise nach einer deflationären Phase (Preise unter ihrem langfristigen Trend) erholen, zum Beispiel nach einer Krise wie der Covid-19-Pandemie. Es handelt sich also um eine gewünschte Rückkehr zum Trend. Oder anders ausgedrückt: Reflation ist die Medizin gegen die als schlecht angesehene Deflation. Sie hat daher wenig mit den derzeit diskutierten Inflationserwartungen zu tun. Es gibt an den Märkten zwar die Sorge, dass die massive expansive Fiskal- und Geldpolitik die Volkswirtschaften auf Inflationskurs gebracht hat. Doch dies ist aus unserer Sicht zu kurz gedacht. Die Pandemie hat die Trends der vergangenen Jahre, in denen aufgrund des schwachen Wirtschaftswachstums, der Demografie und der technologischen Beschleunigung keine Preiserhöhungen zu verzeichnen waren, nochmals verschärft. Daher ist davon auszugehen, dass nach der Reflation wieder der Normalzustand niedriger Inflationsraten eintreten wird.

In einem Reflationsszenario sollten jene Vermögenswerte gekauft werden, die von einem schnelleren Wirtschaftswachstum, Preisdruck und höheren Renditen profitieren - also Aktien, Rohstoffe und inflationsgeschützte (Unternehmens-)Anleihen. Bei der Aktienselektion sind zyklische Sektoren wie Banken, Energieerzeuger und zyklische Konsumgüterproduzenten, zu denen auch Gesellschaften aus der Freizeitindustrie wie Kreuzfahrtunternehmen, Airlines oder Reisekonzerne gehören, zu bevorzugen. Auf der Anleiheseite sollten jene Strategien profitieren, die von einer Versteilung der Zinskurve profitieren, also einem wachsenden Spread zwischen kurz- und langfristigen Anleihen.

Verlierer eines solchen Szenarios sind neben Anleihen guter Qualität (insbesondere Staatsanleihen mit langer Laufzeit) auch hoch bewertete Wachstumsunternehmen. Zum einen bekommen sie Konkurrenz durch die jetzt stärker wachsenden zyklischen Unternehmen. Zum anderen leidet ihre Bewertung, weil zukünftige Gewinne mit einem höheren Zinssatz abdiskontiert werden und nun zum aktuellen Zeitpunkt weniger wert sind.

Reflationstrades funktionieren besonders gut in einer frühen Aufschwungphase nach einer Rezession, wenn Wirtschaftswachstum und Preise beschleunigt anziehen. Aktuelle Risiken bestehen in Unsicherheiten bei der Pandemiebekämpfung, beispielsweise Verzögerungen bei den Impfkampagnen. Ein weiterer Risikofaktor betrifft die Politik. So könnte eine kräftige Wirtschaftserholung zur Folge haben, dass viele Regierungen ihre expansive Fiskalpolitik überraschend schnell zurückdrehen, sodass eine Erholung des Preisniveaus und somit ein wirtschaftlicher Aufschwung über die Maßen gebremst werden. Allerdings sind diese Szenarien eher unwahrscheinlich. Die Corona-Risiken dürften sich dauerhaft nicht verfestigen, und Diskussionen über ein (stärkeres) Zurückdrehen der expansiven Politikimpulse werden wohl erst später in der zweiten Jahreshälfte einsetzen.

 


Über Adrian Roestel

Roestel leitet seit 2017 das Portfoliomanagement der Huber, Reuss & Kollegen Vermögensverwaltung und managt große institutionelle und private Vermögen. Der Diplom-Volkswirt hat über 18 Jahre Kapitalmarkterfahrung und begann seine Karriere als Makroökonom und Fondsmanager bei der Berenberg Bank. Huber, Reuss & Kollegen zählt mit zu den führenden Vermögensverwaltern im deutschsprachigen Raum.