Katarina Barley macht Druck. Die neue Justiz- und Verbraucherministerin hat einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Musterfeststellungsklage in die Ressortabstimmung gegeben, damit das Kabinett noch im April darüber beschließen kann. Anders als bei ihrem Vorgänger Heiko Maas soll es diesmal klappen, so steht es im Koalitionsvertrag. Die Zeit drängt. Das Gesetz soll spätestens am 1. November 2018 in Kraft treten, damit die Ansprüche geschädigter VW-Dieselbesitzer nicht verjähren.
Eine Musterfeststellungsklage kann per Definition lediglich einen Rechtsverstoß mit Bindungswirkung für gleich gelagerte Fälle feststellen. Damit hat noch keine Partei einen Titel. Professor Caroline Meller-Hannich von der Universität Halle-Wittenberg sagt zu Recht: "Der große Nachteil der Musterfeststellung besteht also darin, dass sie zu nichts verpflichtet. Nur, wenn ein Geschädigter im Anschluss an das Musterfeststellungsurteil eigenständig klagt, kann er Entschädigung erhalten." Das Prinzip "einer für alle" trifft bei der Musterfeststellungsklage nicht zu. Jeder einzelne Betroffene muss, sofern er sich in ein vom Gericht zu erstellendes Klageverzeichnis eingetragen hat, nach dem Musterverfahren eine Einzelklage einreichen. Der Berliner Anlegeranwalt Martin Weimann bringt es auf den Punkt: "Bei der Musterklage handelt es sich so um einen ,gefühlten‘ Rechtsbehelf, der leider nicht zu einem Zahlungstitel führt. Das muss der Verbraucher dann - wie bisher - auf eigene Kosten machen. Eine Gruppenklage wäre schneller, weil sie in Typisierungen Rechts- und Zahlungsfragen zusammenfasst."
Das neue Gesetz soll zudem nur Verbraucher, aber nicht Handwerker und Kleinunternehmer schützen. Weiterer Nachteil: Musterfeststellungsklage dürfen laut Koalitionsvertrag nur sogenannte "qualifizierte Einrichtungen" wie Verbraucherzentralen einreichen. Zwar sollen die, die sich ins Klageverzeichnis eintragen lassen, eine relativ kleine Gebühr bezahlen. Ungeklärt ist aber, wer die Kosten der Musterkläger übernehmen soll. Verbände dürften nicht die Ressourcen und das juristische Know-how haben, um auf Augenhöhe mit großen Konzernen zu streiten. Der Hauptgrund für die aktuelle Ausgestaltung der Musterfeststellungsklage ist die Furcht vor Sammelklagen und der Einfluss von Lobbyisten. Seit Jahren wettern BDI-Vertreter gegen drohende "amerikanische Verhältnisse" und eine "Klageindustrie". Leider hat das gewirkt. Deutsche Rechtspolitiker von SPD und CDU/CSU haben die Einführung eines wirksamen kollektiven Rechtsschutzes, der das Fehlverhalten von Unternehmen einhegen würde, seit Jahren verhindert. Sogar im Koalitionsvertrag ist von dieser ominösen Klageindustrie die Rede. Dabei kennt das deutsche Recht nicht die in den USA übliche Erfolgsbeteiligung der Anwälte, das Jurysystem oder den oft hohen Strafschadensersatz. Dies will hier auch keiner einführen, es geht lediglich um die kollektive Klagemöglichkeit.
VW hat bisher einen dreistelligen Millionenbetrag an Rechtsanwaltskanzleien wegen der Ansprüche der von ihnen betrogenen Kunden bezahlt. Warum ist die Rechtsberatung von großen Konzernen durch internationale Topkanzleien völlig legitim, die Vertretung und Prozessfinanzierung von Anlegern und Verbrauchern aber ein unzulässiges "Geschäftsmodell"? Im Übrigen hat auch die EU-Justizkommissarin Věra Jourová einen Kommissionsvorschlag vorgelegt, der die Teilnahme an Sammelklagen erleichtert und die klagebefugten Organisationen offener definiert. Deutschland sollte das aufnehmen und mit gutem Beispiel in Europa vorangehen. Der bislang beste deutsche Vorschlag zur Regelung kollektiver Ansprüche stammt von den Grünen. Er sieht eine einstufige Klage vor, die auch Anlegern und kleinen Unternehmern offensteht sowie bei Beteiligung automatisch die Verjährung hemmt. Doch statt pragmatischer Lösungen will die GroKo die Musterfeststellungsklage durchpeitschen, die vermutlich für die VW-Geschädigten zu spät kommen wird.