Nachdem mehrere Labour-Abgeordnete die Partei verlassen und die "Independent Group" (TIG) gegründet haben, lastete enormer Handlungsdruck auf Corbyn, seine Partei erneut zu einen. Dass seine Unterstützung für ein zweites Referendum jedoch der erhoffte Befreiungsschlag wird, darf bezweifelt werden.
Zum einen muss Corbyn sich nun mit den Labour-Abgeordneten auseinandersetzen, deren Wahlkreise im Referendum einen Austritt aus der EU befürwortet hatten. 2016 betraf dies immerhin 72 Abgeordnete der Partei. Wenngleich viele der betroffenen Wahlkreise laut Umfragen mittlerweile in das Remain-Lager übergelaufen sind, gibt es immer noch eine signifikante Anzahl an Labour-Abgeordneten (derzeitige Schätzungen belaufen sich auf 25), die ihrer Parteispitze die Gefolgschaft verweigern werden, wenn es um ein zweites Referendum geht. 25 mag auf den ersten Blick zwar nicht viel erscheinen, angesichts der Tatsache, dass Labour "nur" 257 Sitze im Parlament hält, ist jedoch jede Stimme kritisch.
Das zweite Problem, mit dem sich Corbyn auseinandersetzen muss, ist die Formulierung der Fragestellung in einem Referendum. Sicher ist bislang nur, dass ein "No-Deal" Brexit ausgeschlossen und die Option, den EU-Austritt ganz abzusagen, gegeben werden sollen. Laut aktuellen Medienberichten schwebt der Labour-Parteispitze derzeit eine Wahl zwischen dem Verbleib in der EU und einem "glaubwürdigen Austrittsvertrag" vor. Völlig unklar ist jedoch, wie ein solcher Vertrag aussehen und vor allem, wer ihn verhandeln soll. Solange Theresa May Premierministerin ist (und derzeit gibt es keine Anzeichen, dass sich daran kurzfristig etwas ändern wird), gilt der von ihr ausgehandelte Vertrag - den Labour allerdings klar ablehnt. Und die EU wird sich kaum auf "Schattenverhandlungen" mit Corbyn einlassen, um einen Alternativ-Vertrag auszuhandeln, der dann im Referendum zur Wahl gestellt werden könnte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es über Umwege doch noch zu einem zweiten Referendum kommt, ist nach dem Kurswechsel von Jeremy Corbyn sicherlich gestiegen. Als sehr wahrscheinlich erachten wir dieses Szenario jedoch weiterhin nicht. Im Gegenteil: die Angst vor einem zweiten Referendum könnte die Brexit-Hardliner in Mays Partei endlich auf ihre Seite bringen.
Stefan Bielmeier ist Chefvolkswirt der DZ-Bank.