BOERSE-ONLINE.de: 2019 litten die Börsen weltweit unter politischen wie auch wirtschaftlichen Unsicherheiten wie etwa dem Brexit oder dem US-Handelsstreit mit China. Welche Unsicherheiten stehen 2020 besonders im Fokus?
Carsten Klude: Wir rechnen auch für 2020 zunächst mit einer Fortsetzung der Handelsstreitigkeiten zwischen USA und China und einer damit verbundenen Volatilität. Ebenso wird auch der Brexit Thema an den Märkten bleiben. Hinzu kommen die Wahlen in den USA die in Abhängigkeit der Umfragen und Wahlprogramme die Aktienmärkte mit hoher Sicherheit beeinflussen werden. Größtes Risiko für den Aktienmarkt sehen wir hierbei im Falle, dass Donald Trump nicht widergewählt wird und ein Kandidat mit einem "linken" Wahlprogramm gewählt wird.

Ist eine Entspannung bei den aktuellen Dauerbrennern Brexit und Handelsstreit in Sicht?
Wir erwarten eine Entspannung bei beiden Themen im Jahresverlauf 2020. Herr Trump wird unseres Erachtens versuchen mit Beginn der heißen Phase im Wahlkampf einen Deal mit den Chinesen hinzubekommen.

Aus heutiger Sicht: Welche Themen dürften die Börsen 2020 sonst noch beschäftigen?
Wir rechnen für die Aktienmärkte in 2020 mit unterschiedlichen Kursentwicklungen in den jeweiligen Jahreshälften. Das erste Halbjahr sollte durch eine höhere Unsicherheit und tendenziell rückläufige Kurse geprägt sein. Hintergrund hierfür sehen wir einerseits in der sehr starken Kursentwicklung der Aktienmärkte in 2019. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht ungewöhnlich, wenn die Börsen zunächst einmal in eine Konsolidierung übergehen.
Darüber hinaus startet im Januar die Berichtssaison der Unternehmen für das vierte Quartal. Da sich die Konjunkturschwäche in den vergangenen Wochen fortgesetzt hat, sollten die Ergebnisse den negativen Trend aus den Vorquartalen 2019 bestätigen. Zudem gehen wir davon aus, dass die Ganzjahresprognosen der Unternehmen für das Jahr 2020 aufgrund der schwachen Konjunkturaussichten und der nach wie vor politischen Einflüsse wenig Optimismus versprühen. Viele ungelöste politische Problemthemen wie der Brexit und der Handelskonflikt zwischen den USA und China werden auch in 2020 zunächst weiter Bestand haben, so dass für uns insgesamt die Unsicherheit in den ersten Monaten 2020 überwiegt.
Für die zweite Jahreshälfte sind wir dann optimistischer und rechnen mit wieder steigenden Aktienmärkten. Insbesondere der Wahlkampf in den USA sollte hierzu beitragen, da Donald Trump mit hoher Wahrscheinlichkeit gemäßigtere Töne gegenüber China und Europa anschlagen wird, um sich entsprechend als Dealmaker zu positionieren. Die Unsicherheit bezüglich des Handelskonflikts könnte damit weiter abnehmen und in Kombination mit etwas besseren Konjunkturdaten die Stimmung der Anleger aufhellen. Die diesjährigen Zinssenkungen in Europa, aber vor allem in den USA sollten der Konjunktur zumindest einen leichten Auftrieb im kommenden Jahr geben. Darüber hinaus sind Wahljahre in den USA in den meisten Fällen gute Aktienmarktjahre gewesen, so dass für uns in der zweiten Jahreshälfte die Chancen überwiegen.

Das schwächelnde Wachstum der chinesischen Wirtschaft bremst die Weltwirtschaft und hemmt damit auch die Aussichten für Deutschland. Wie groß wird der Einfluss dieser Entwicklung im nächsten Jahr sein?
Da wir aufgrund der expansiveren Geld- und Fiskalpolitik von einer Stabilisierung des chinesischen Wachstums ausgehen, rechnen wir mit einem weniger negativen Einfluss auf Europa und insbesondere auf Deutschland in 2020. Wir halten eine deutliche Zunahme der Wachstumsdynamik in China auf der anderen Seite aber auch für wenig wahrscheinlich.

Mit Christine Lagarde steht die Europäische Zentralbank (EZB) seit November 2019 unter neuer Führung. Ihr Vorgänger Mario Draghi hat im EZB-Rat einigen Gesprächsbedarf zurückgelassen. So sind die Ratsmitglieder im Hinblick auf die erneute Aufnahme des Anleihenkaufprogramms und dem Leitzins auf Rekordtief gespaltener Meinung. Einige fordern einen Kurswechsel der EZB. Wo sehen Sie die EZB Ende 2020?
Die wichtigste Aufgabe von Frau Lagarde wird es sein, den EZB-Rat wieder auf eine einheitliche Linie zu bringen und die offensichtlichen Differenzen zwischen den Mitgliedern zu überbrücken. In der Geldpolitik wird sich 2020 nichts ändern, die Zinsen bleiben unverändert. Allerdings sorgt das neue Anleihenkaufprogramm von monatlich 20 Milliarden Euro dafür, dass die Geldpolitik sehr expansiv bleibt. Hinzu kommen im Durchschnitt weitere 20 Milliarden Euro pro Monat an auslaufenden Anleihen, die die EZB reinvestieren wird.

Das Jahr 2019 stand ganz im Zeichen von Niedrigzins. Mittlerweile sind nicht mehr ausschließlich Banken von Strafzinsen betroffen, sondern auch Privatanleger müssen teils ab dem ersten Cent zahlen. Auch von Krediten mit Negativzinsen ist inzwischen die Rede. Rechnen Sie mit flächendeckender Verbreitung von Negativzinsen für Privatkunden?
Der Druck auf die Banken, die negativen Zinsen an ihre Privatkunden weiterzugeben, wird in 2020 weiter zunehmen. Wir rechnen damit, dass weitere Banken diesen Schritt gehen werden und spätestens in 2021 ein Großteil der privaten Anleger negative Zinsen zahlen werden.

Die USA befinden sich im längsten Aufschwung ihrer Geschichte. Doch es gibt auch Hemmschuhe, weiß Ulrich Stephan von der Deutschen Bank. Politische Unsicherheiten und Diskussionen über die Regulierung amerikanischer Großindustrien wie beispielsweise Finanzen, Pharma, Energie und Tech im Vorfeld der Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November 2020 könnten das Wachstum hemmen. Wie schätzen Sie das Wachstum der USA für das nächste Jahr ein?
Die Wachstumsdynamik wird abnehmen, da die positiven Effekte der Steuerreform und der expansiven Fiskalpolitik auslaufen. Wir rechnen mit einem Wachstum von 1,8 Prozent. Solange der Konsument aufgrund des Arbeitsmarktes in Form bleibt, wird es aber keine Rezession geben.

Im November des nächsten Jahres wird in den USA wieder gewählt. Inwieweit werden sich der Wahlkampf und die Wahl voraussichtlich auf die Börsen auswirken?
Der Wahlkampf wird sich je nach Wahlprogramm auf einzelne Unternehmen und Branchen auswirken. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Pharmabranche in diesem Zuge unter einer möglichen weiteren Regulierung am meisten leiden wird.
Wir rechnen aber grundsätzlich unter Schwankungen mit einer freundlichen Tendenz an den Aktienmärkten während des Wahlkampfes. Insbesondere für den Fall, dass die Umfragen Herrn Trump als Wahlsieger vorhersagen.

Strategen blicken dem neuen Börsenjahr teils nicht sehr optimistisch entgegen. In welchen Branchen sehen Sie die größten Chancen und warum?
Wir rechnen ein weiteres Jahr damit, dass die Technologiebranche ihre positive Tendenz aus den Vorjahren fortsetzen kann. Hintergrund ist die Vielzahl an guten Geschäftsmodellen mit ihren weiterhin hohen Wachstumsraten. Zwar nimmt die Dynamik der Wachstumsraten im Vergleich zu den Vorjahren etwas ab; im Vergleich zu vielen anderen Branchen sind diese allerdings sehr hoch und weniger schwankungsanfällig.

Sowohl der Export wie auch die Industrie schwächeln. Die Konsumnachfrage ist aber nach wie vor gut. Bleibt der Konsum auch 2020 die Stütze der deutschen Konjunktur?
Ja, davon ist auszugehen. Der private Verbrauch hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Säule des deutschen Wirtschaftswachstums gemausert. Auch in diesem Jahr werden die Konsumausgaben gegenüber 2018 um 1,6 Prozent zulegen. Für die traditionell eher zurückhaltenden deutschen Verbraucher wachsen die Bäume zwar nicht in den Himmel, der stabile Arbeitsmarkt und hohe Lohn- und Rentenzuwächse sorgen aber für eine ordentliche Kaufbereitschaft der privaten Haushalte. Hinzu kommt die gesunkene Inflation, die dafür sorgt, dass sich die Kaufkraft positiv entwickelt und die Menschen mehr Geld in ihren Portemonnaies haben als vor einigen Jahren. Da die Deutschen aber auch ein Volk der Sparer sind - trotz oder vielleicht wegen der niedrigen Zinsen ist die Sparquote mit fast elf Prozent auf einem sehr hohen Niveau - werden die potenziellen Konsummöglichkeiten nicht voll ausgeschöpft.
2020 werden die privaten Konsumausgaben von daher um 1,4 Prozent ansteigen. 2020 rechnen wir mit einem leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit. Vor allem in der Automobil- und Zulieferindustrie fallen viele Stellen weg. Die Unternehmen versuchen aber zunächst, mit flexiblen Maßnahmen, wie Überstundenabbau, Kurzarbeit und einer Verringerung der Arbeitszeiten, einen größeren Stellenabbau zu vermeiden. In Zeiten des Facharbeitermangels hält man so lange wie möglich an seinem Personalbestand fest, um nicht bei einem Wiederanziehen der Konjunktur auf einmal zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte an Bord zu haben. Insofern wird die Arbeitslosenquote nur leicht von 5,0 Prozent in diesem auf 5,2 Prozent im nächsten Jahr ansteigen. Allerdings dürften die "fetten Jahre" der hohen Lohnsteigerungen erste einmal vorbei sein. 2020 dürfte der Zuwachs im Durchschnitt bestenfalls bei zwei Prozent liegen.

Könnte die deutsche Wirtschaft 2020 in eine Rezession abgleiten?
Sofern sich der Handelsstreit zwischen den USA und China beruhigt, ist das nicht zu erwarten. Diese enttäuschende Entwicklung in diesem Jahr ist vor allem auf die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von der Industrie und den Exporten zurückzuführen. Das bedeutet aber auch, dass mit keiner schnelleren Besserung der ökonomischen Lage zu rechnen ist. Solange sich die Deglobalisierungstendenz der Weltwirtschaft fortsetzt, wird die deutsche Wirtschaft hierunter leiden. Zu exponiert ist unsere Stellung im internationalen Güterhandel. Hinzu kommen die negativen Wachstumseffekte der strukturellen Veränderungen in der Automobilindustrie mit ihren direkten Auswirkungen auf andere deutsche Vorzeigeindustrien wie den Maschinenbau und die Chemieindustrie. Wir gehen deswegen davon aus, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt 2020 saison- und kalenderbereinigt (das ist die international übliche statistische Abgrenzung) um 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr ansteigen wird, womit die Wachstumsdynamik ähnlich verhalten ausfallen dürfte wie 2019. Allerdings wird das "offizielle" deutsche Wachstum optisch mit 1,0 Prozent deutlich höher ausfallen, weil es im nächsten Jahr je nach Bundesland zwischen drei und fünf Arbeitstage mehr gibt. Dieser statistische Effekt überzeichnet jedoch die tatsächliche Konjunkturdynamik.

Was ist Ihre Einschätzung? Stehen die Börsen im nächsten Jahr vor einem Boom oder vor einem Crash?
Weder noch. Wir rechnen aber mit einer soliden Wertentwicklung von 5-10 Prozent je nach Land und Index.

Wo steht der DAX zum Jahresende?
14.000 Punkte

Ihr persönlicher Anlagetipp: Worauf würden Sie 2020 setzen?
Größtes Überraschungsmoment könnten die Emerging Market Aktienmärkte haben, insbesondere in Asien. Eine Stabilisierung des chinesischen Wachstums und ein schwächerer US-Dollar sowie zum Teil moderate Aktienmarktbewertungen sollten hier die Treiber sein.