Angesichts neuer russischer Gas-Drohungen: Wie hoch schätzen Sie derzeit das Risiko einer Energiekrise in Europa ein?
Mumm: Das Risiko ist signifikant, kann aber kaum in konkreten Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden. Letztlich hängt es von unberechenbaren Entscheidungen, vor allem im Kreml ab. Sicher steigt aber die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario mit jedem Tag, den der Ukrainekonflikt aus russischer Sicht ohne größere Erfolge weitergeht. Damit gerät der russische Präsident Putin unter zunehmenden Druck, weitere Eskalationen voranzutreiben, um keine Schwäche oder gar Niederlage zu signalisieren.
Welche Folgen hätte diese Zuspitzung für die Konjunktur in Deutschland und Europa?
Mumm: Die ohnehin schon geschwächte konjunkturelle Dynamik würde einen weiteren heftigen Schlag erhalten. Ein kompletter Gaslieferstopp würde für Deutschland und wohl auch Europa eine Rezession bedeuten. Über das Ausmaß gibt es unterschiedliche Einschätzungen, die von einem geringeren Wachstum in Höhe von 2 bis 6 Prozent im Vergleich zum aktuellen Basisszenario ausgehen. Da es keine historischen Analogien gibt, die internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen sehr komplex sind und die Reaktionen von Verbrauchern, Unternehmen und Staaten nicht im Vornherein genau abgesteckt werden können, ist auch hier eine exaktere Prognose nicht möglich. Zudem würden Energie- und Rohstoffpreise noch einmal massiv ansteigen.
Der Aktienmarkt steht wegen Kriegsrisiken, China-Sorgen, Zinsängsten, Konjunktur- und Inflationsrisiken und durchwachsener Bilanzsaison unter Druck: Wie groß schätzen Sie das Rückschlagpotenzial ein?
Angesichts der derzeit enormen Unsicherheit für die kommende konjunkturelle Entwicklung halten sich viele Aktienkurse bisher sogar noch recht stabil. Dadurch besteht Enttäuschungspotenzial, wenn es zu einer weiteren Eskalation kommen sollte. Viele internationale Leitindizes befinden sich aber bereits seit Anfang Januar in intakten Abwärtstrends. Bezogen auf den DAX verlaufen knapp über der Marke von 13.000 Punkten wichtige Unterstützungen. Sollten diese in einer beschleunigten Abwärtsbewegung nicht halten, wäre auch ein Test der Tiefstkurse aus dem März bei etwa 12.500 Punkten möglich.
Wen trifft es am härtesten?
Besonders im Fokus stehen derzeit europäische Aktien wegen der regionalen Nähe zum Konfliktherd Ukraine und der direkten Auswirkungen möglicher weiterer Sanktionen und Gegensanktionen. Sollte ein Gaslieferstopp kommen, könnte es zudem spätestens im Herbst zu Rationierungen, bspw. bei der Stromversorgung sehr energieintensiver Branchen kommen. Aber auch viele Schwellenländer werden schon jetzt von den hohen Energie- und Rohstoffpreisen heftig getroffen. Nicht auszuschließen ist eine weitere Verschärfung der Lage durch eine zunehmende Nahrungsmittelknappheit im Jahresverlauf.
Sehen Sie Unternehmen und Branchen, die sich dem Negativsog entziehen könnten?
Grundsätzlich profitieren aktuell Rohstoffproduzenten von den stark erhöhten Preisen, auch unter den Volkswirtschaften. In Europa bringt zudem die weitgehende Aufhebung von Corona-Restriktionen Entlastungen für viel Dienstleister. Trotz steigender Lebenshaltungskosten und einer hohen allgemeinen Verunsicherung ist mit einem gewissen Aufholeffekt beim privaten Konsum zu rechnen, der Unternehmen aus den Segmenten Veranstaltungen, Tourismus, Gaststätten usw. stützen sollte. Auch klassische defensive Sektoren wie die Anbieter von Basiskonsumgütern oder Pharmawerte sollten sich stabiler entwickeln.