BÖRSE-ONLINE.de: Das Börsenjahr 2021 stand ganz im Zeichen von Corona, der Bundestagswahl, Inflation, Lieferengpässen und DAX-Rekorden. Wie haben Sie das abgelaufene Jahr erlebt?
Carsten Mumm: Es gab im Jahr 2021 einige überraschende Entwicklungen, beispielsweise im Zuge der Bundestagswahl in Deutschland. Damit meine ich weniger das Wahlergebnis an sich. Vielmehr hat sich unmittelbar nach dem Wahltag sehr schnell eine erfrischende Aufbruchstimmung verbreitet. Allein schon die Vorsondierungen zwischen den Grünen und der FDP, bevor mit dem größeren Partner einer potenziellen Dreier-Koalition gesprochen wurde, zeugte vom Verlassen eingetretener Pfade. Auch dass besonders viele Erstwähler die FDP gewählt haben, war überraschend. Im Koalitionsvertrag wurden einige gute Ansätze mit einem notwendigen längerfristigen Wirkungshorizont festgehalten, wie beispielsweise ein starker Fokus auf Innovation, Bildung und Startup-Förderung oder die Modernisierung des Staates. Entscheidend ist aber, inwieweit die Umsetzung dieser Vorhaben in die Realität umgesetzt werden kann.
Als Folge der Coronakrise ergaben sich einige längerfristig wirkende und teilweise kaum vorhersehbare Entwicklungen. Eine über Monate hinweg sinkende Industrieproduktion in Deutschland wegen massiver globaler Lieferkettenprobleme und trotz historisch hoher Auftragslage konnte genauso wenig erwartet werden, wie das deutliche Ausmaß des Inflationsanstiegs. An den Kapitalmärkten war vor allem das Verharren langfristiger Zinsen für Staatsanleihen in einem Umfeld deutlich erhöhter Inflationsraten außergewöhnlich. Insgesamt kann 2021 als ein ungewöhnliches, aber ausgesprochen facettenreiches und letztlich für Kapitalanleger erfolgreiches Jahr verbucht werden.
Welche Auswirkungen hat die Zuspitzung der Pandemie für die deutsche Wirtschaft und wie stark schlägt das weiter auf die Preise durch?
Die deutsche Wirtschaft passt sich immer besser der Produktion unter Corona-Bedingungen an. Seit dem ersten Quartal sinkt die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe allerdings stetig aufgrund immer gravierenderer Lieferengpässe, die letztlich auch eine Folge der Coronakrise sind. Ende 2021 sorgten die erneut steigenden Corona-Fallzahlen zwar für eine deutliche Eintrübung der Konsumentenstimmung, allerdings erfolgen pandemiebedingte Restriktionen immer zielgerichteter. Das schwerwiegendere Problem für mittlerweile nahezu alle Bereiche der Volkswirtschaft, also auch Dienstleistungen, Handel und Bau bleiben die Lieferkettenprobleme. Im vierten Quartal 2021 dürfte die deutsche Wirtschaft daher sogar schrumpfen und auch der Start ins neue Jahr wird noch schwach ausfallen. Bisher waren Unternehmen vielfach in der Lage, die teils explodierenden Produktionskosten weitgehend an die Endverbraucher durchzureichen. Zusammen mit deutlich steigenden Preisen für Energie und einige Nahrungsmittel sowie Einmaleffekten ergibt sich dadurch der gerade spürbare, erhebliche Inflationsdruck.
Ist der gegenwärtige Inflationsschub vorübergehend oder länger andauernd?
Wir werden die Inflationsspitze voraussichtlich im Dezember 2021 überschreiten. Ab Januar fallen einige preistreibende Einmaleffekte weg, wie die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer in Deutschland vom Jahresanfang. Wir gehen allerdings davon aus, dass wir auch in den kommenden Jahren höhere Inflationsniveaus als vor der Coronakrise üblich behalten werden. Hintergrund sind einige strukturell und langfristig wirkende, preistreibende Faktoren. Dazu gehört, dass sich die Staus in vielen der weltweit größten Containerhäfen nur langsam über einige Monate hinweg abbauen werden. Auch die Energiepreise dürften aufgrund einer konjunkturell bedingt wieder steigenden Nachfrage ab Mitte 2022 sowie einem nach wie vor im Vergleich zur Zeit vor der Krise gedämpften Angebot weiter steigen. Zudem wirken absehbare massive Investitionen von Staaten und Unternehmen zur Steigerung der Resilienz beispielsweise von Lieferketten oder des Gesundheitssystems, in digitale Infrastruktur sowie zwecks Dekarbonisierung der Produktion preisniveautreibend. Schon erkennbar sind Bemühungen, Löhne in unteren und mittleren Einkommenssegmenten stärker steigen zu lassen. Und nicht zuletzt haben wir als Folge der Krise eine sehr enge Verflechtung von Geld- und Fiskalpolitik und damit die Annahme, dass die Geldpolitik die Zügel trotz bereits erheblichem Inflationsdrucks deutlich langsamer anziehen wird als in der Vergangenheit.
Droht der deutschen Wirtschaft im Winterhalbjahr erneut eine Rezession?
Das Wachstum im vierten Quartal dürfte negativ ausfallen. Im ersten Quartal rechnen wir mit einem positiven, aber schwachen Wachstum.
Vor allem der Chipmangel und die allgemeinen Lieferengpässe haben das abgelaufene Jahr belastet. Welche Unsicherheiten erwarten die Aktienmärkte im neuen Jahr?
Der Verlauf der Pandemie bleibt ein Unsicherheitsfaktor, vor allem wegen möglicher weiterer Virusvarianten in bevölkerungsreichen Schwellenländern mit geringen Impfquoten. Zudem besteht die Möglichkeit, dass sich die Lieferengpässe noch länger hinziehen als erwartet. Für die Börsen generell ist eines der größten Risiken aber das Einleiten einer geldpolitischen Wende durch viele Notenbanken weltweit. Vor allem, wenn die Notenbanken gezwungen würden, deutlich schneller einen restriktiveren Kurs zu fahren und bspw. die Zinsen stärker anzuheben, weil der Inflationsdruck weiter zunehmen sollte, wären Kursrückschläge bei nahezu allen Anlageklassen wahrscheinlich.
Welche Themen dürften die Börsen 2022 außerdem beschäftigen?
Neben den anhaltenden Megatrends der Digitalisierung, der Dekarbonisierung und des Klimawandels, werden auch geopolitische Themen eine größere Rolle spielen. Vor allem der Konflikt zwischen China und den USA dürfte wieder verstärkt auf die Agenda rücken. US-Präsident Joe Biden wird innenpolitisch im kommenden Jahr wegen der anstehenden Midterm-Elections im November kaum Akzente setzen können und sich daher auf die Außenpolitik fokussieren. Da er im Handelskonflikt mit China keine grundsätzlich andere Linie verfolgt als Donald Trump, dürften immer wieder Verunsicherungen entstehen. China wiederum steckt mitten in einer bedeutenden Transformation der Wirtschaft. Es geht um die Dekarbonisierung der Produktion, vor allem aber darum, den erheblichen Einfluss des Immobiliensektors zurückzufahren, die Binnenwirtschaft zu stärken und die wirtschaftliche Abhängigkeit gegenüber den USA und Europa zu reduzieren. Im Ergebnis wird das Wachstum Chinas daher in den kommenden Jahren geringer ausfallen als noch vor einigen Monaten gedacht.
Lieferengpässe waren 2021 ein allgegenwärtiges Thema. In ersten Bereichen ist eine leichte Erholung zu spüren. Wie geht es weiter?
Die Grundannahme ist, dass ab dem Frühjahr coronabedingte Restriktionen sukzessive wegfallen und sich im Laufe des ersten Halbjahres auch die Lieferkettenprobleme langsam auflösen, so dass beginnend mit dem zweiten Quartal der überdurchschnittlich dynamische Aufschwung nach der Corona-Rezession wieder aufgenommen werden kann. allerdings gibt es keinerlei historische Beispiele, wie lange es tatsächlich dauert, bis die massiven Staus vor vielen Containerhäfen abgebaut sind - nur Annahmen. Erneute Verzögerungen, etwa durch die pandemiebedingte Schließung von Häfen, könnten den Normalisierungsprozess verlängern.
Die US-Notenbank Fed hat bereits seit längerem eine Zinswende auf ihrer Agenda stehen. Welche Schritte erwarten Sie als nächstes?
Wir rechnen mit einem Ende der Wertpapierkäufe im Frühjahr. Eine erste Leitzinsanhebung wäre dann im zweiten Quartal denkbar und ist angesichts des erheblichen und bisher stetig zunehmenden Inflationsdrucks in den USA auch wahrscheinlich.
Wegen der Inflation müsste die EZB eigentlich eine restriktivere Geldpolitik fahren, will aber gleichzeitig die Konjunktur nicht ausbremsen. Wie wird die EZB weiter vorgehen?
Die EZB wird vorerst weiter von einem nur temporären Inflationsdruck ausgehen. Ihre eigenen Inflationsprojektionen sehen schon ab 2023 wieder eine Unterschreitung des Inflationsziels von zwei Prozent vor. Damit hat die Notenbank die Berechtigung, den derzeit ultra-expansiven Kurs nur langsam zurückzufahren. Wir rechnen mit einer stärkeren Reduktion der Anleihekaufvolumina ab April, aber mit anhaltenden Wertpapierkäufen im gesamten Jahr 2022. Leitzinserhöhungen dürften trotzdem gegen Ende 2022 zur Diskussion stehen, denn wir rechnen mit einem deutlich höheren als den von der EZB erwarteten Inflationspfad.
Die Fed startet die Zinswende und zieht die Geldpolitik an. Die EZB bleibt bei ihrem lockeren geldpolitischen Kurs. Die Notenbanken driften weiter auseinander - welche Folgen hat das?
Der Euro wird im Vergleich zum US-Dollar vorerst schwach bleiben und wirkt in der Eurozone tendenziell inflationstreibend. Der daraus resultierende Vorteil für die Exportindustrie kommt angesichts bestehender Lieferengpässe hingegen nicht zum Tragen, wodurch Unternehmen tendenziell belastet werden würden. Sollte der US-Dollar weiter stark aufwerten, hätten allerdings auch Schwellenländer Probleme, ihre teilweise in Dollar denominierten Schulden zu begleichen. Zudem würde dringend benötigtes Investitionskapital aus Schwellenländern in den US-Dollarraum umgeschichtet.
Mit den jüngsten Gesprächen zwischen US-Präsident Joe Biden und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping zeichnet sich eine erste Entspannung im Streit zwischen den beiden Handelsmächten ab. Welche Chancen sehen Sie für eine künftige Zusammenarbeit?
Mit konstruktiver Zusammenarbeit rechne ich nicht, eher mit einem weiteren Konfrontationskurs. Wir erwarten ein jahrelang anhaltendes Rennen um die wirtschaftliche, technologische und irgendwann einmal auch militärische Vormachtstellung in der Welt. Letztlich ist es auch ein Wettbewerb zwischen zwei unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen. Vereinzelte Einigungen in bestimmten Themenfeldern sind trotzdem möglich und eine totale Eskalation des Konflikts halte ich für unwahrscheinlich. Dafür sind die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu groß, etwa über globale Lieferketten oder dadurch, dass China der größte Halter von US-Staatsanleihen ist.
Könnten deutsche Exportfirmen von einer Entschärfung des Konflikts profitieren?
Grundsätzlich profitiert Außenhandel von weniger geopolitischen Konflikten. Allerdings werden gerade die USA vornehmlich für die eigene Volkswirtschaft passende Vereinbarungen mit China treffen wollen. Denkbar sind dabei sogar auch Regelungen, die zulasten deutscher Exporteure gehen könnten, etwa wenn China bestimmte Importmengen von Waren aus den USA vereinbart. Deutsche Unternehmen und auch die deutsche Regierung sowie die EU werden daher ihre eigene Strategie zum Umgang mit China entwickeln müssen - idealerweise koordiniert mit den USA als wichtigem Bündnispartner, aber nicht abhängig von US-Regelungen.
Kürzlich wurde das 550 Milliarden US-Dollar schwere Infrastrukturprogramm von Präsident Biden durch den Kongress genehmigt. Was bedeutet das für die USA und auch weltweit?
Die Ausgaben werden über die kommenden Jahre gestreckt erfolgen. Sie sind nur ein Beispiel weiterer weltweit zu erwartender massiver staatlicher Investitionsprogramme, die die gesamtwirtschaftliche Nachfrage innerhalb der jeweiligen Volkswirtschaft strukturell unterstützen werden. Deutsche Unternehmen aus den Sektoren Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau werden davon profitieren, insbesondere wenn sie dabei helfen können, die Dekarbonisierung der Produktion und den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben.
Das Vereinigte Königreich ist Anfang 2020 aus der Europäischen Union ausgetreten. In den vergangenen zwei Jahren hat sich viel getan. Wie schätzen Sie die aktuelle Beziehung ein und wie geht es weiter?
Es sieht derzeit nicht so aus, als ob die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Großbritannien und dem Euroraum in naher Zukunft wieder das Vor-Brexit-Niveau erreichen könnten. Der Außenhandel mit Deutschland ist beispielsweise deutlich eingebrochen. Die noch immer bestehenden Streitthemen wie die Handhabung der Zollkontrollen zwischen Nordirland und dem restlichen Großbritannien oder strittige Fragen im Bereich der Fischerei deuten eher auf anhaltende Zwistigkeiten hin. Dabei wäre es wichtig, eine gute und konstruktive Beziehung zu Großbritannien aufzubauen. Einerseits wegen der direkten Handelsverknüpfungen, aber auch, um das Land nicht direkt in die Arme der USA für bilaterale Verträge zulasten der Eurozone zu treiben.
Wie sollten sich Anleger in einem inflationären Umfeld positionieren?
Grundsätzlich sind reale Anlageklassen wie Aktien, Immobilien und Edelmetalle gut unterstützt. Wie die letzten Monate gezeigt haben, muss höhere Inflation für Unternehmen nicht schlecht sein. Im Gegenteil konnten viele ihre Margen trotz massiv steigender Kosten stabil halten, weil sie diese an ihre Endverbraucher durchreichen konnten. Auch die Aussicht auf eine wieder dynamischere Konjunkturentwicklung ab dem zweiten Quartal spricht weiterhin für Aktien. Selbst beginnende Leitzinserhöhungszyklen waren historisch keine schlechten Aktienjahre. Besonders profitieren werden Unternehmen mit großer Preissetzungsmacht, beispielsweise Zykliker in einem Umfeld anhaltend hoher Nachfrage. Allerdings ist davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten die Schwankungen zunehmen werden, da diverse Unsicherheitsfaktoren immer wieder für Rückschläge sorgen könnten. Einige Schlagwörter wären hier Geopolitik, Corona, Tapering oder Lieferketten. Eine hohe Unsicherheit, konjunkturelle Belebung und anhaltend negative Realzinsen sprechen außerdem für steigende Goldnotierungen. Wir denken, dass Gold in 2022 einen Großteil der in 2021 ausgefallenen Kursgewinne nachholen kann. Das wird eintreten, sobald der Belastungsfaktor einer erheblichen Aufwertung des US-Dollar geringer wird und die Schwankungen bei Aktien zunehmen.
Der DAX wurde im September von 30 auf 40 Werte aufgestockt. Das bedeutete auch im MDAX und SDAX massive Veränderungen. Wie bewerten Sie diese Neuerungen in den ersten Monaten seit Umstellung?
Durch die Umstellung bietet der DAX ein besseres Abbild der aktuellen volkswirtschaftlichen Aufstellung Deutschlands. Abgesehen von Airbus, blieb die Rangfolge der Indexschwergewichte allerdings kaum verändert. Trotzdem steigt durch die Erweiterung die Attraktivität auch für ausländische Investoren weiter, was dem Investitionsstandort Deutschland zugutekommen sollte. Für den MDAX und den SDAX sehe ich keine nennenswerten Nachteile. Sie bleiben interessante Indizes für die zweite beziehungsweise dritte Reihe der größten deutschen börsennotierten Aktiengesellschaften.
Mit welchem DAX-Stand rechnen Sie Ende 2022?
Ich rechne mit etwa 17.500 Punkten.