BÖRSE-ONLINE.de: Nach ersten Hochrechnungen liegt noch kein Kandidat klar vorn. Bevor Arizona und Pennsylvania nicht ausgezählt sind, wird auch kein klares Ergebnis erwartet. Was bedeutet das für die Börsen?
Carsten Mumm: Je länger es kein klares Wahlergebnis gibt, umso stärker wird die Unsicherheit. Nachdem in den letzten Tagen eher ein Biden-Sieg eingepreist wurde, wird diese Erwartung nun sukzessive korrigiert. Sollte es noch Tage oder gar länger dauern, bis der Präsident und die Mehrheitsverhältnisse im Senat feststehen, wäre zunächst keine klare Tendenz an den Börsen zu erwarten.
Auf Basis vorangegangener Umfragen hätte man von einem klaren Sieg Bidens ausgehen können. Eindeutig ist bis jetzt allerdings nichts. War Biden nicht einnehmend genug, sondern am Ende doch nur "nicht Trump"?
Biden hatte ein zu unscharfes Profil und konnte wohl zu wenige unsichere Wähler von sich überzeugen. Vor allem wurde Trump eine höhere Wirtschaftskompetenz zugerechnet. Diese erachten derzeit viele als wichtig, um die Rezession möglichst schnell zu überwinden. Die zuletzt wieder deutlich steigenden Stimmungsindizes bei US-Unternehmen dürften Trump geholfen haben.
In Großstädten entscheiden sich die Wähler überwiegend für Biden, auch in den Vorstädten hat Biden leicht die Nase vorn. In Kleinstädten gehen die Stimmen eher an Trump. Wie wirkt sich diese Tendenz auf die Chancen der Kandidaten aus?
Es sieht so aus, als ob Trump wie im Wahljahr 2016 vor allem bei enttäuschten weißen Wählerschichten in landwirtschaftlich und - ehemals - industriell geprägten Regionen entscheidende Stimmen geholt hat. Diese historisch zumeist demokratisch wählenden Bürger konnte Biden zu wenig überzeugen.
Ändern sich Trumps Chancen mit der Neubesetzung im Supreme Court durch die konservative Richterin Amy Coney Barrett, falls das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vor Gericht gehen sollte?
Definitiv ist die Neubesetzung des Obersten Gerichtshofs ein Vorteil für Trump, sollte eine juristische Entscheidung notwendig werden. Würde Trump durch eine Gerichtsentscheidung ins Amt kommen, wären wohl soziale Unruhen anzunehmen.
Präsident Trump zweifelt an der Sicherheit der Briefwahl und befürchtet Wahlfälschung durch die Demokraten. Wie sieht das Worst-Case-Szenario aus, falls Trump die Wahl nicht gewinnt?
Worst-Case bei einem Biden-Sieg wären wochenlange juristische Auseinandersetzungen ohne klare Bestätigung eines Wahlsiegers.
Bis auch die Briefwahlstimmen ausgezählt sind, können noch einige Tage vergehen. Was bedeutet diese Unsicherheit für die Börsen?
Anhaltende Unsicherheit über den künftigen politischen Kurs der USA belastet die Börsen. Allerdings werden die Kurse derzeit auch stark vom Fortgang der Corona-Pandemie und der wirtschaftlichen Erholung g getrieben.
Im Senat liegen die Republikaner vorn. Was bedeutet das für die Regierung, sollte Biden das Rennen machen?
Biden könnte seine enormen Ausgaben für Infrastruktur, eine grüne Energiewende und den Bereich Gesundheit wohl nicht vollumfänglich umsetzen. So oder so sind aber größere neue Konjunkturpakete in den kommenden Wochen wahrscheinlich - auch unter Trump. Klare Mehrheiten im Kongress für den Präsidenten würden die Umsetzung allerdings deutlich beschleunigen.
Falls Biden gewinnt: Wie würden Sie sich wünschen, dass seine erste Amtshandlung in Bezug auf Europa aussehen würde?
Ein klares Zeichen einer erneuten inhaltlichen und emotionalen Annäherung wäre auch für Europa ein positives Aufbruchssignal.
Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sagte, dass Deutschland nicht auf einen erneuten Wahlsieg von Präsident Donald Trump eingestellt ist. "Man muss es ehrlich sagen - nein", sagt er im ZDF auf eine entsprechende Frage. "Wenn die Nato nicht vier, sondern acht Jahre infrage gestellt würde, wäre dies etwas ganz anderes." Deutschland müsse dann sehr viel mehr auch in seine Sicherheit investieren. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Generell ist die Lehre aus den letzten vier Jahren, dass sich Deutschland gemeinsam mit Europa schnell auf eine gemeinsame Verteidigungsstrategie abstimmen sollte - auch unter Akzeptanz höherer Ausgaben. Das wäre für alle beteiligten europäischen Staaten letztlich die effizienteste, sicherste und kostengünstigste Variante.
Wie schätzen Sie die möglichen negativen Folgen für die europäischen und deutschen Exportunternehmen ein?
Sollte Trump im Amt bleiben, würde die Wahrscheinlichkeit eines Handelskonfliktes mit Europa steigen. Zudem würde ein umfassendes Handelsabkommen zwischen den USA und Großbritannien nach dem Vollzug des Brexit wahrscheinlicher. Dadurch würde die Position der EU geschwächt werden. Außerdem würden deutsche Exporteure weiter belastet werden, auch wenn eine Erholung der Weltwirtschaft vom Corona-Schock in 2021 ohnehin positiv wirkt.
Was würde es für Europa bedeuten, wenn sich die Wahl noch Monate hinzieht und sich die USA praktisch nur mit sich selbst beschäftigen?
Europa müsste sich auf den Brexit und die wirtschaftliche Erholung vom Corona-Schock konzentrieren. Die Ereignisse in den USA müssen zunächst abgewartet werden. Sobald die US-Regierung handlungsfähig ist, müssen Sachthemen (Handelspolitik, globale Bekämpfung der Corona-Pandemie etc.) wieder in den Vordergrund rücken - unabhängig davon, wer US-Präsident ist.
Was bedeuten die Verzögerungen für die milliardenschweren Corona-Konjunkturprogramme in den USA, die eigentlich so rasch wie möglich gestartet werden müssten?
Jede weitere Verzögerung und Schrumpfung von Volumina bedeuten eine fehlende Unterstützung der US-Wirtschaft und dämpfen die Erholung.
Die amerikanische Gesellschaft gilt als gespalten. Kann eine neue Präsidentschaft das ändern?
Biden hätte die Chance dazu und würde es wohl auch versuchen. Trump würde wohl eher weiter spalten.