Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas forderten die russischen Behörden auf, den mutmaßlichen Anschlag auf Nawalny aufzuklären. Angesichts dessen herausgehobener Rolle in der russischen Opposition müsse die Tat bis ins Letzte und transparent aufgeklärt werden. "Die Verantwortlichen müssen ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden", heißt es der gemeinsamen Erklärung von Merkel und Maas.

Die Charite-Sprecherin erklärte, nach seiner Ankunft am Samstagmorgen sei Nawalny eingehend untersucht worden. Die klinischen Befunde wiesen auf eine Vergiftung "durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin". Die konkrete Substanz sei aber bislang nicht bekannt. Nun werde Nawalny ein Gegenmittel verabreicht, hieß es weiter. "Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden."

Nawalny, einer der prominentesten Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin, war am Donnerstag auf einem Flug von Sibirien nach Moskau zusammengebrochen. Nach einer Notlandung in Omsk wurde er zunächst in einer Klinik dort behandelt, ehe er am Wochenende nach Berlin geflogen wurde. Die Ärzte seien mit Nawalnys Ehefrau in engem Austausch, teilte die Charité weiter mit. Im Einvernehmen mit ihr gehe die Klinik davon aus, "dass die öffentliche Mitteilung zum Gesundheitszustand in seinem Sinne ist". Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin: "Weil man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einem Giftanschlag ausgehen kann, ist Schutz notwendig." Er fügte hinzu: "Der Verdacht ist, dass Herr Nawalny vergiftet wurde, wofür es in der jüngeren russischen Geschichte leider einige Verdachtsfälle gab."

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen, äußerte die Vermutung, dass die mutmaßliche Vergiftung Nawalnys von höchster Stelle angeordnet worden sei. "Solche Dinge sind Chefsache", sagte der CDU-Politiker am Abend im ZDF. Damit sollte seinen Worten zufolge ein Exempel an Nawalny statuiert werden - "zur Warnung der eigenen Bevölkerung". Der Zeitpunkt sei kein Zufall. Ziel sei es, vor dem Hintergrund der Proteste in Belarus ein "klares Zeichen" an die russische Opposition zu senden, sagte Röttgen.

"WIR HABEN SEIN LEBEN GERETTET"


Nach den Worten russischer Ärzte wurde Nawalny nicht vergiftet. "Wir haben sein Leben mit großer Mühe und Arbeit gerettet", sagte Chefarzt Alexander Murachowski auf einer Pressekonferenz in der sibirischen Stadt Omsk. "Wenn wir eine Art Gift gefunden hätten, das sich irgendwie bestätigt hätte, wäre es für uns viel einfacher gewesen. Es wäre eine klare Diagnose, ein klarer Zustand und eine bekannte Behandlungsweise gewesen", fügte Anatoli Kalinitschenko, ein leitender Arzt des Krankenhauses, hinzu. Die behandelnden Ärzte wiesen Vorwürfe zurück, die Ausreise Nawalnys auf Druck der Behörden verzögert zu haben. Nach der Charite-Mitteilung erklärten die Gesundheitsbehörden in Omsk, ein Test auf Cholinesterase-Hemmer sei vergangene Woche negativ ausgefallen. Nawalny sei auf eine große Zahl von Substanzen hin untersucht worden.

Der Filmproduzent Jaka Bizilj geht davon aus, dass Nawalny noch Wochen bis zu einer Genesung braucht. Im Politik-Talk "Die richtigen Fragen" auf "Bild live" sagte Bizilj am Sonntagabend: "Aus meiner Sicht ist die entscheidende Frage, ob er das unbeschadet übersteht und seine Rolle weiter einnehmen kann." Bizilj, der den Transport Nawalnys aus Sibirien nach Berlin zur Behandlung in der Charite mit seiner Organisation "Cinema for Peace" organisiert hatte, fügte hinzu: "Wenn er das unbeschadet übersteht, was wir alle hoffen, dann ist er sicherlich trotzdem mindestens ein, zwei Monate aus dem politischen Gefecht weg."

rtr