Eine "graue Welle" rollt auf die Welt zu. Im Zuge des demografischen Wandels wird die Gesellschaft tendenziell immer älter. So übersteigt die Zahl der Verstorbenen in Japan schon seit einem Jahrzehnt die Zahl der Neugeborenen, und mehr als ein Viertel der Japaner ist älter als 65 Jahre. Eine ähnliche Entwicklung deutet sich in Europa an: Der Anteil der EU-Bürger, die älter als 65 Jahre sind, wird dem Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) zufolge von 19,5 Prozent im Jahr 2017 auf 27 Prozent im Jahr 2040 steigen - das entspricht fast 40 Prozent mehr in gut 20 Jahren.
Dieser demografische Wandel wird weitreichende Folgen für die Wirtschaft und die Kapitalmärkte haben. Aus diesem Grund wird zum Beispiel das International Longevity Centre (Internationales Zentrum für Langlebigkeit), das sich mit den Chancen und Risiken des demografischen Wandels für die Wirtschaft befasst, Mitte 2019 erstmals einen Business Summit ausrichten. Auf diesem Treffen werden wohl auch folgende drei Entwicklungen zur Sprache kommen: Geht die Geburtenrate zurück, nimmt erstens die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte ab. Dies wird vermutlich zu einem intensiveren Wettbewerb der Unternehmen um qualifizierte Mitarbeiter führen. Zweitens dürften die Anforderungen an die Gesundheits- und Sozialsysteme rapide steigen. Und drittens liegt es nahe, dass die Konzentration des Vermögens bei älteren Menschen weiter zunehmen wird - einfach deswegen, weil es mehr Ältere geben wird.
Aus Anlegersicht ist es sinnvoll, Portfolios schon jetzt so weit wie möglich auf diese Veränderungen auszurichten. Einige Trends, die es dabei zu beachten gilt, sind recht offensichtlich. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Konsumvorlieben älterer Menschen: Die Nachfrage nach Reisen (vor allem Kreuzfahrten) und Luxusgütern, Kosmetik, Gesundheits- und Wellnessprodukten, nach Premium- und Convenience-Nahrungsmitteln dürfte im Zuge des steigenden Durchschnittsalters wachsen. Zudem ist es wahrscheinlich, dass Ältere bereit sind, mehr Geld für ihre Haustiere auszugeben. Unternehmen mit entsprechendem Geschäft dürften profitieren.
Mit der zunehmenden Lebensdauer wird wohl auch der Bedarf an verschiedenen medizinischen Produkten und Geräten steigen. Das britische Unternehmen Smith & Nephew, das in diesem Bereich aktiv ist, weist bereits heute darauf hin, dass es in stark wachsenden Märkten operiert, die von der alternden Gesellschaft und technologischen Fähigkeiten, die Patienten ein längeres und aktiveres Leben ermöglichen, profitieren. Der menschliche Körper verschleißt nun einmal im Laufe der Zeit. Daraus ergeben sich auch Chancen für Unternehmen, die im Bereich Zahntechnologie aktiv sind.
Anlagemöglichkeiten gehen über den Konsum hinaus
In anderen Fällen sind die theoretischen Chancen aus praktischer Sicht nicht ganz so überzeugend. Beispielsweise dürfte der Markt für seniorengerechte Behausungen wachsen, wenn es mehr ältere Menschen gibt. Aber ob daraus ein wirklich umfassender Trend entsteht, ist fraglich. So gaben in einer Umfrage des US-Rentnerverbands American Association of Retired Persons etwa 90 Prozent der Teilnehmer an, dass sie im Alter zu Hause wohnen bleiben möchten.
In Anbetracht dessen dürften die größeren Anlagechancen bei Herstellern liegen, die Technologien entwickeln, um das Zuhause altersgerecht zu gestalten. Dazu gehören Automatisierungstechniken zur Reinigung oder auch Lösungen zur Steigerung der Energieeffizienz, um die Wohnnebenkosten zu senken und im bezahlbaren Rahmen zu halten. Stimmerkennung spielt dabei eine wichtige Rolle - ebenso wie selbstfahrende Autos, um die Menschen im Alter unabhängig und mobil zu halten.
Die Anlagechancen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel gehen über die Konsumgewohnheiten älterer Menschen hinaus. Sie werden die Gesellschaft insgesamt betreffen. Beispielsweise sollten Anleger bedenken, wie Unternehmen mit der eingangs erwähnten abnehmenden Produktivität infolge einer schrumpfenden Menge an Arbeitskräften umgehen. Im Zusammenhang damit werden Technologien zur Produktivitätssteigerung essenziell sein, woraus sich Chancen für Technologieunternehmen ergeben. Zudem wird erfolgskritisch werden, inwieweit Arbeitgeber ältere Fachkräfte halten können, um sich deren Erfahrung und Expertise langfristig zu sichern. Dabei spielen unter anderem flexiblere Arbeitsplätze und -zeiten, die sich gut mit den Lebensgewohnheiten im Alter vereinbaren lassen, eine Rolle. Inwiefern Unternehmen in der Lage sind, ältere Talente zu halten, dürfte auch im Zuge von ESG-Analysen zunehmend in den Fokus der Anleger rücken.
Durch den demografischen Wandel steigt auch der Druck auf Regierungen und öffentliche Kassen. Diese werden voraussichtlich vermehrt auf Effizienz achten müssen, etwa um den zunehmenden Kostendruck im Gesundheitswesen abzumildern. Dies eröffnet zum Beispiel Chancen für Anbieter regenerativer Medizin, welche die Selbstheilungskräfte des Körpers unterstützt und damit Behandlungskosten senkt.
Auch der Bildungssektor ist einen Blick wert. Einerseits dürfte die Zahl der Schulkinder in den kommenden Jahrzehnten tendenziell abnehmen. Andererseits werden Menschen, die deutlich über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten und im Laufe ihres Lebens aufgrund veränderter gesellschaftlicher und/oder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen womöglich zwei oder drei unterschiedliche Berufe ausüben, vermehrt Fortbildungen in der Mitte des Lebens benötigen.
Weniger Staat, mehr Privatwirtschaft
Insofern bietet der demografische Wandel bereits jetzt vielfältige Anlagechancen. Auf diese zu setzen ist vielfach Erfolg versprechender, als kurzfristige Marktentwicklungen zu spielen. Denn sie unterliegen einem eindeutigen und stabilen Trend, was damit verbundene Szenarien relativ gut berechenbar macht. Chinas Wachstumsrate, die Brexit-Verhandlungen und der umstrittene italienische Haushalt werden auf kurze Sicht wahrscheinlich nicht verschwinden.
Anleger sollten sich davon aber nicht ablenken lassen, sondern sich auf die Zukunftsaussichten der Unternehmen konzentrieren. Dabei spielen neben der alternden Gesellschaft auch weitere langfristige Trends eine Rolle, die Anlagechancen bieten - etwa dass es vermutlich "weniger Staat" und dafür mehr privatwirtschaftliches Engagement geben wird. Gleichzeitig gilt es Unternehmen zu meiden, deren Geschäftsmodelle durch den Wandel der Gesellschaft nicht profitieren oder langfristig sogar in ihrer Existenz bedroht sein werden.
Kurzvita
Florian Uleer
Country Head Deutschland bei Columbia Threadneedle Investments
Uleer verantwortet als Country Head Germany das institutionelle und das Wholesale-Geschäft in Deutschland bei
Columbia Threadneedle Investments, einer
führenden globalen Vermögensverwaltungsgruppe, die ein breites Spektrum aktiv gemanagter Anlagestrategien und -lösungen für institutionelle Anleger sowie Privatanleger anbietet. Sie verwaltet ein Vermögen von über 376 Milliarden Euro (Stand: 31. Dezember 2018).