TAG EINS, FREITAG, 24. JUNI: CAMERON UNTER DRUCK
Die Wahllokale in Großbritannien schließen am Donnerstagabend um 23.00 Uhr (MESZ). Nachwahlbefragungen soll es nicht geben, aber im Laufe der Nacht dürften die ersten Ergebnisse der Stimmenauszählung vorliegen. Der britische Premierminister David Cameron - der das Referendum angesetzt hat und für einen Verbleib seines Landes in der EU wirbt - will die EU "umgehend" darüber informieren, falls das Königreich die Union verlässt. Diese umgehende Mitteilung könnte allerdings einige Tage in Anspruch nehmen, denn Cameron steht im Falle eines britischen "Out"-Votums unter massivem Druck seiner Konservativen Partei. Selbst im Falle eines EU-Verbleibs könnte es für Cameron eng werden, da die Tories in der Frage der EU-Mitgliedschaft tief gespalten sind und ihrem Vorsitzenden eine Mitschuld für diesen parteiinternen Zwist geben.
Zugleich dürfte es in Falle einer Entscheidung für den "Brexit" zu Verwerfungen an den Börsen kommen. Die Bank of England und die Europäische Zentralbank sind womöglich gezwungen, am Devisemarkt einzugreifen.
Deutschland, Frankreich und die EU-Institutionen werden voraussichtlich Erklärungen veröffentlichen, die drei Kernbotschaften enthalten. Erstens ein Bedauern über das Ausscheiden des Landes, das fast ein Fünftel der Wirtschaft in der EU ausmacht und ein militärisches Schwergewicht in Europa ist. Zweitens der Respekt gegenüber der Entscheidung des britischen Volkes. Drittens die Entschlossenheit, das Projekt EU voranzubringen. Eventuell gibt es noch eine vierte Komponente, die eine unverblümte Warnung gegenüber anderen EU-Staaten enthalten könnte: Nämlich nicht auf die Idee zu kommen, den gleichen Weg wie die britische Regierung zu beschreiten und mit der Option eines EU-Austritts zu spielen.
TAG DREI, SONNTAG, 26. JUNI: "RAUM B"
Falls es den Brexit geben sollte, würde EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nach Angaben von EU-Vertretern am folgenden Sonntag ein Sondertreffen der Kommissionsspitze einberufen. Die EU-Behörde wäre dafür zuständig, die Formalitäten der Scheidung zwischen London und Brüssel zu regeln. Einen "Plan B" für diesen Fall soll es angeblich nicht geben. Ähnliche Versicherungen waren indes auch im vergangenen Sommer in der Debatte über ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone ("Grexit") zu hören, bis mehrere Euro-Finanzminister schließlich selbst von einem "Plan B" sprachen, als die Verhandlungen kurz vor dem Scheitern standen.
Doch statt eines schriftlichen Notfallplans, der den Weg in die Medien finden könnte, werde es beim "Brexit" eher einen "Raum B" geben, sagt ein EU-Vertreter. Dort sollten Experten und Juristen Maßnahmen festzurren, die am Montagmorgen präsentiert werden könnten. Denn spätestens nach dem letzten Juni-Wochenende dürften Finanzmärkte und Bürger fragen, wie es mit der EU ohne Großbritannien weitergehen soll.
Auf Seite 2: TAG FÜNF UND SECHS
TAG FÜNF, DIENSTAG, 28. JUNI: EIN DINNER IN BRÜSSEL
EU-Gipfel in Brüssel: Auch wenn Camerons politische Karriere bei einem Brexit vorbei sein sollte, dürfte er am traditionellen Abendessen zum Auftakt des Gipfels der 28 Staats- und Regierungschefs noch teilnehmen, da vermutlich noch kein Nachfolger für ihn ernannt ist. Cameron könnte dort zudem EU-Ratspräsident Donald Tusk offiziell darüber informieren, dass sein Land nach Artikel 50 der EU-Verträge aus der Union austritt.
Noch ist umstritten, ob Cameron diesen Schritt bereits an jenem Abend geht oder ob die Regierung in London auf Zeit spielt. Auf der anderen Seite des Tisches wird es wahrscheinlich Staats- und Regierungschefs geben, die einen sofortigen, klaren Schnitt wollen, um den Eindruck langer Verhandlungen und Sonderregelungen für die Briten sofort zu unterbinden. Sollte Cameron das Referendum gewinnen, wird er voraussichtlich auf die rasche Umsetzung jener Zusagen pochen, die er beim EU-Sondergipfel im Februar für sein Land herausgeschlagen hat.
TAG SECHS, MITTWOCH, 29. JUNI: EIN STUHL WENIGER
Im Brexit-Szenario würde der zweite Tag des EU-Gipfels wohl ohne Cameron stattfinden. Die übrigen 27 Staats- und Regierungschefs dürften dann darüber debattieren, wie sie die Union zusammenhalten wollen und die Löcher im EU-Haushalt stopfen, die ein Abschied des Nettozahlers Großbritannien reißen würde. Deutschland und Frankreich könnten zugleich Ideen für eine stärkere EU-Integration vorbringen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen oder eine gemeinsame EU-Verteidigungspolitik aufzubauen. Angesichts der Wahlen 2017 in beiden Ländern sind weitreichende Maßnahmen indes unwahrscheinlich.
Auf Seite 3: TAG SIEBEN
AB TAG SIEBEN: KEIN KURZER BRIEF ZUM LANGEN ABSCHIED
Bei einem Brexit würden die EU-Regeln für das Königreich noch zwei Jahre lang in Kraft bleiben. EU-Kommissar Jonathan Hill wäre noch weiter für die Finanzmärkte zuständig, die britischen Abgeordneten würden noch im EU-Parlament sitzen, Minister aus London bei Sitzungen im EU-Rat teilnehmen. Viel zu sagen aber hätte wohl keiner von ihnen. Auch sonst könnte die Trennung bald im Schweigen enden.
Die EU hätte mit der Debatte über den Umgang mit Russland oder die Lehren aus Schulden- und Flüchtlingskrise genug Themen, um sich von den Unannehmlichkeiten der britischen Scheidung abzulenken. Und die Regierung in London wäre womöglich damit beschäftigt, erneute Absetzbewegungen der pro-europäischen Schotten einzudämmen. Seine EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2017 dürfte das Königreich jedenfalls an Estland abgeben, das eigentlich erst danach an der Reihe wäre.
Generell herrscht in Brüssel bei vielen Verantwortlichen die Einstellung vor, den EU-Abschied für die Briten so schmerzhaft wie möglich zu machen, um Nachahmer in anderen EU-Ländern abzuschrecken. Die von britischen "Brexit"-Befürwortern erwarteten Handelserleichterungen soll es jedenfalls nicht auf dem Silbertablett geben.
Wenn Großbritannien Teil der EU-Familie bleibt, sind im EU-Parlament und womöglich vor Gericht heftige Debatten über die Sonderregeln absehbar, die Cameron der EU im Februar abgetrotzt hat. Vor allem die Einschränkungen von Sozialleistungen für EU-Bürger in Großbritannien sind umstritten. Zugleich könnten aber Initiativen für neue EU-Regeln auf dem Tisch landen, die bisher angesichts des erwarteten Widerstandes in der britischen Öffentlichkeit in den Schubladen geblieben sind - etwa Vorgaben beim Stromverbrauch von Haushaltsgeräten wie Toastern oder Wasserkochern. Ob und wie sich Großbritannien dann proaktiv in die EU-Politik einbringen könnte, steht auf einem anderen Blatt.
Reuters