Wenn Berlin plötzlich mit unbequemen Energie-Wahrheiten konfrontiert wird


Diplomatie scheint den Krieg nicht zu beenden. Wie soll auch ein Kompromiss aussehen, den sowohl die russische als auch ukrainische Seite gesichtswahrend akzeptieren kann? Vielleicht hätte Putin keinen Überfall gestartet, wenn seine willfährigen, duckmäuserischen, Ja-sagenden Klatschhasen die Kriegsrisiken hätten benennen dürfen. Und vielleicht wären wehrhaftere Demokratien in Europa statt pazifistischer Illusionen neben einem differenzierteren Energie-Mix auch ein Contra-Kriegsargument gewesen.

Jetzt haben wir also den Salat, leider ohne Sonnenblumenöl. Die Europäische Union will zwar vollmundig russisches Gas bis Jahresende um zwei Drittel reduzieren. Gut gebrüllt Löwe, aber Du hast keine Zähne. Zunächst, ein Embargo gegen russisches Öl und Gas zu verhängen, um Putins Kriegskasse auszutrocknen, wird leider keine schnelle Wirkung zeigen. Fast alle laufenden Kriegskosten wie Soldatensold und das in Russland produzierte Kriegsgerät werden in Rubel bezahlt. Insofern ist auch die Rubel-Abwertung für Putin weniger gravierend. Nicht zuletzt kommt der Treibstoff für Panzer und Flugzeuge aus eigenen Quellen.

Und der Bumerang kommt zurück. Werden die russischen Öl- und Gashähne aus welchen Gründen auch immer zugedreht, wird das Klumpenrisiko der dramatischen deutschen Energieabhängigkeit von Russland fatale Folgen haben. Vielen Unternehmen droht die Energielosigkeit und im nächsten Winter würde es in jeder zweiten Wohnung so kalt sein wie in Bethlehems Stall. Eines der beliebtesten Weihnachtsgeschenke wäre dann wohl wieder der selbst gestrickte Pullover.

Die beschwerliche Suche nach dem alternativen Energie-Glück


Ausgerechnet ein grüner Wirtschaftsminister fährt nach Katar und bettelt nach fossilem Flüssiggas. Und der neue Lieferant ist nicht nur auf eine finanzielle Gegenleistung aus. Diesem autoritären Regime geht es natürlich auch um Aufwertung.

Zwar hat auch Amerika Flüssiggas. Doch die kapitalistisch denkenden USA werden dieses nicht zu transatlantischen Freundschaftspreisen abgeben. Amerika verhält sich wie Mutter Courage im Dreißigjährigen Krieg: Wer den höchsten Preis zahlt, bekommt die Ware. Übrigens kann Europa die aktuellen Abnehmer nur mit brutalen Preisaufschlägen verdrängen.

Überhaupt käme es erst mittel- bis langfristig zu einer Entlastung. Bis die nötigen Flüssiggas-Terminals in Europa und Deutschland zur Verfügung stehen, vergehen Jahre. Vor allem aber ist die mögliche Liefermenge unsicher und begrenzt. Wer sagt uns denn, dass neue Lieferanten politisch stabil bleiben, verlässlich sind und faire Preise aufrufen? Wäre selbst Amerika unter einem Präsident Trump nicht auch ein unsicherer Kantonist?

Und grundsätzlich, um den europäischen Energiebedarf vollständig zu decken, wäre eine Armada von 4.000 großen Tanklastern nötig. Doch so viele Kapazitäten gibt es gar nicht, weil es auch gar nicht so viele Schiffe gibt. Und die vorhandenen - weltweit schätzungsweise 500 - sind für lange Zeit ausgebucht. Sicherlich werden im Zeitablauf neue gebaut. Aber aufgrund von Rohstoffmangel, langen Fertigungszeiten und hohen Baukosten - die sich erst langfristig bezahlt machen und erheblichen Ertragsrisiken gegenüberstehen - wird es dauern, bis die Nachfrage auch nur annähernd gedeckt ist.

Nicht zuletzt, die transatlantische Überfahrt hin und zurück kann in beide Richtungen jeweils zwei Wochen dauern. D.h., im Durchschnitt kann jeder Tanker nur einmal im Monat an einem europäischen Terminal anlegen.

Ebenso soll die Umweltbelastung nicht unerwähnt bleiben. Je nach Verfahren werden für die Verflüssigung des Gases, die Be- und Entladung und die Wiedervergasung bis zu einem Viertel der Energie des Ursprungsgases benötigt. Zudem setzt Fracking deutlich mehr klimaschädliches Methan frei als andere fossile Energiegewinnung und ist eine Gefahr für das Trinkwasser. Will Berlin diese "Vorkettenemissionen" ignorieren? Dann widerspräche man massiv der eigenen politischen Ideologie.

Zur Reduzierung der Abhängigkeiten und aus Gründen des Klimaschutzes sollen längerfristig alle fossilen Energien ersetzt werden. Klingt super. Doch zunächst sind auch für den Bau von Wärmepumpen Rohstoffe nötig, die aber wohl auf unabsehbare Zeit rar gesät und teuer sind.

Ohnehin haben wir noch das "kleine" Problem, dass für Digitalisierung, E-Mobilität und auch Wasserstoffgewinnung zukünftig ein Mehrfaches des heutigen Stroms gebraucht wird. Wenn wir diesen aber nicht ausreichend und zu bezahlbaren Preisen anbieten, geht unser Standort ein wie eine nicht gegossene Primel im Hochsommer.

Doch woher kommt der bezahlbare Strom, wenn Öl, Kohle, Gas und Atomstrom pfui bah sind? Photovoltaik und Windkraft kommen wegen zu langen Genehmigungsverfahren und Bürgerprotesten übrigens auch vom Naturschutzbund Deutschland zu schleppend voran.

Alternativ spricht die Politik vom Energieeinsparen: Wer Putin schaden will, spart Energie. Doch schon vor dem Ukraine-Konflikt war es für viele Haushalte Luxus, die Thermostate an den Heizkörper weit nach rechts zu drehen. Und Wirtschaftsschrumpfung scheidet ohnehin aus, weil die sozialen Kosten viel zu hoch wären.

Und jetzt kommt es in der Bundesregierung zum ultimativen Energie-Schwur. Man hat die Wahl zwischen drei unangenehmen Möglichkeiten. Riskiert man einen massiven wirtschaftlichen Einbruch und kalte Hintern im Winter? Bleibt man bei russischen Gasimporten und stützt damit einen Aggressor? Oder kommt die umfassende Rückkehr zur Kohle- und Atomenergie, was bedeutete, dass so mancher nicht mehr in der Opposition sitzende, sondern regierende Klimabewegte nicht nur eine Kröte, sondern ganze Kolonien schlucken muss.

Man sagt, Politik ist die Kunst des Möglichen. Das gilt auch für Energie-Politik. Jetzt zeigt sich, wer in Berlin besonders künstlerisch begabt ist.

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.