Am 30. September begann ein Mammutprozess. 440.000 Verbraucher fordern gemeinsam Schadenersatz. Wie die Chancen stehen, was jetzt noch möglich ist. Von Stefan Rullkötter, Euro am Sonntag

Das Urteil ist ein weiterer Schlag für Volkswagen. Der Autokonzern muss im Abgasskandal für Fahrzeuge mit dem Dieselmotor EA 189 EU 5 grundsätzlich haften, urteilte diese Woche das Oberlandes­gericht Frankfurt. Erfolgreich geklagt hatte ein Autokäufer, der 2009 einen VW Tiguan mit einem Motor dieser Baureihe erworben hatte. Wegen "vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung" habe er Anspruch auf Rückgabe des Fahrzeugs und Erstattung des Kaufpreises, so die Richter (Az. 17 U 45/19).

Die neue Entscheidung macht Hunderttausenden Dieselfahrern Mut, die sich zu einer Musterfeststellungsklage zusammengeschlossen haben. Sie wird ab dem 30. September vor dem Oberlandesgericht Braunschweig verhandelt. Der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) und der ADAC hatten sie am 1. November 2018 eingereicht. Damit wollen die Verbände klären lassen, ob VW unrechtmäßig gehandelt hat und Autokäufer wegen manipulierter Abgassysteme in ihren Fahrzeugen Schadenersatzansprüche haben. "Der Autokonzern hat betrogen und muss deshalb zur Rechenschaft gezogen werden", fordert VZBV-Chef Klaus Müller.

Dieselfahrer in der Fristenfalle


Im September 2015 hatte VW nach ­Ermittlungen von US-Behörden den ­Einbau illegaler Software in rund elf Millionen Dieselfahrzeugen weltweit eingeräumt. Die Programme drücken den Schadstoffausstoß bei Emissionstests, damit dem Anschein nach die gesetzlichen Grenzwerte der jeweiligen Länder eingehalten werden. In Deutschland wurden 2,6 Millionen VW-Autos mit der Betrugssoftware ausgerüstet.

Dabei drängt die Zeit für alle vom Abgasskandal betroffenen Dieselfahrer, die noch keine rechtlichen Schritte eingeleitet haben. Sie können der Muster­feststellungsklage bis einen Tag vor der ersten öffentlichen Anhörung kostenlos beitreten. Das erforderliche Formular findet sich auf der Internetseite des Bundesamts für Justiz (www.bundesjustizamt.de) unter dem Suchbegriff "Klageregister". Da der für den Fristablauf maßgebliche 29. September auf einen Sonntag fällt, ist hier ein Verfahrensbeitritt ausnahmsweise noch am ersten Verhandlungstag möglich.

Wer sich der Sammelklage anschließen will, sollte in einem Schnell-Check prüfen, ob er tatsächlich alle Voraussetzungen erfüllt. Das anstehende Verfahren umfasst nur Fahr­zeuge der Marken Audi, Seat, Skoda und VW mit Dieselmotoren des Typs EA 189. Zudem müssen die Autos nach dem 1. November 2008 gekauft worden sein. "Wer sich falsch ins Klageregister einträgt und den Prozessverlauf abwartet, riskiert, dass sein Fall verjährt", warnt Müller.

Bis zur letzten Datenerhebung am 13. September gab es bereits 438.300 Anmeldungen zu dieser Musterfeststellungsklage. Darunter dürften sich eine Reihe doppelter Einträge oder solche von Dieselfahrern finden, die Autos mit anderen Motoren fahren oder aus an­deren Ländern kommen. Bei Letzteren hat der zuständige Gerichtssenat bereits durchblicken lassen, dass er deren Verfahrensbeteiligung für fraglich hält.

Volkswagen blockt Kompromiss ab


An einem gerichtlichen Vergleich, den die klagenden Verbände vor Prozessbeginn ins Spiel brachten, hat VW kein Interesse: Eine solche Möglichkeit sei wegen der vielen un­terschiedlichen Fallkonstellationen kaum vorstellbar, haben Firmenspre­cher wiederholt erklärt. Der Autobauer betont zudem, dass die Kunden aus Unternehmens­sicht keinen Schaden erlitten hätten, da nach einem Softwareupdate alle Fahrzeuge im Verkehr genutzt werden könnten. Bestätigt fühlt sich Volkswa­gen durch andere Urteile von Oberlandes­gerichten zu seinen Gunsten.

Daher ist zu erwarten, dass die mündliche Anhörung nur den Auftakt zu ­einem langen Gerichtsverfahren bildet. Der zweite Termin ist für den 18. Novem­ber angesetzt. Experten erwarten, dass der gesamte Prozess inklusive einer Revision am Bundesgerichtshof (BGH) vier bis fünf Jahre, also bis etwa 2025 dauern dürfte. Beim obersten deutschen Zivilgericht sind bereits mehr als 30 Die­selverfahren anhängig. In Karlsruhe wurde aber bisher keine Diesel­klage verhandelt, weil sich VW hier lieber verglich - wohl, um ein letztinstanzliches Urteil zu vermeiden.

Verfahrensteilnehmer brauchen so­mit einen langen Atem - und sollten ihr Fahrzeug in dieser Zeit am besten wenig bis gar nicht bewegen: Selbst wenn VW zu Schadenersatz verurteilt wird, müssen sich Autokäufer eine Nutzungs­entschädigung für gefahrene Kilometer anrechnen lassen. Das kann am Ende einen hohen Wert­verlust bedeuten. Hoffnung macht den Musterklägern, dass der BGH in einem sogenannten Hinweisbeschluss die illegale Abgas­technik als Sachmangel einstufte. Das ist Voraussetzung für Kunden, um ge­gen Auto­händler vorgehen zu können.

Musterfeststellungsklage:


Zielgruppe: Geschädigte Verbraucher, die Schadenersatzansprüche gegen Firmen gemeinsam und ohne eigenes Prozesskostenrisiko gerichtlich geltend machen wollen.

Prozedere: Mindestens zehn Betroffene müssen die Musterfeststellungsklage über einen Verband einreichen, der keine Gewinnerzielungsabsicht hat und mindestens vier Jahre besteht. Anschließend müssen sich innerhalb von zwei Monaten mindestens 50 Geschädigte in ein Klageregister beim Bundesamt für Justiz eintragen.

Kosten: Die Musterfeststellungsklage ist für Verbraucher kostenlos. Sie können im Fall eines für sie positiven Gerichtsurteils direkt aber keine Ansprüche geltend machen, sondern müssen auf der Basis im Anschluss individuell klagen.

Individuelle Zivilklage:


Zielgruppe: Alle rechtsschutzversicherten Dieselfahrer, die vom Abgasskandal betroffen sind. Diesen empfiehlt der Verbraucherzentrale Bundesverband, den Weg einer Einzelklage zu beschreiten.

Prozedere: Abhängig vom Streitwert werden Klagen auf Schadenersatz und auf Rückabwicklung von Kaufverträgen in erster Instanz vor dem Amtsgericht oder dem Landgericht (ab 5.000 Euro) verhandelt. Ein Zivilprozess nimmt hierzulande durchschnittlich neun Monate in Anspruch. Das kann bei der eventuellen Nutzungsentschädigung mehrere Tausend Euro ausmachen.

Kosten: Bei Deckungszusage übernimmt die Versicherung alle Verfahrenskosten. Ohne Rechtsschutz zahlt der Kläger bei einer Niederlage Gerichts- und Anwaltskosten.

Prozessfinanzierer:


Zielgruppe: Wer ohne Prozess­risiko klagen möchte, aber nicht rechtsschutzversichert ist, kann sich an einen Prozessfinanzierer wenden. In Deutschland sind Foris, Legial und Roland Prozessfinanz die führenden Anbieter.

Prozedere: Der Geschädigte muss zunächst einen Anwalt einschalten, der den Klageentwurf und weitere relevante Unterlagen beim Prozessfinanzierer einreicht. Innerhalb von zwei bis sechs Wochen erfolgt üblicherweise eine Finanzierungszusage - oder eine Ablehnung.

Kosten: Für den Kläger entstehen keine Gerichts- und Anwaltskosten. Wird der Prozess gewonnen, bekommt der Finanzierer zwischen 20 und 50 Prozent des eingeklagten Erlöses. Je höher diese Summe ist, desto niedriger ist die Quote.

Legal-Tech-Firmen:


Zielgruppe: Dieselfahrer, die ihre Schadenersatzansprüche erst ­kostenlos prüfen lassen wollen. Rechts­dienstleister dafür sind Portale wie myright.de, verbraucherritter.de und dieselklage.com.

Das Prozedere: Legal Techs erstellen Beschwerdeschreiben und Klageschriften digital. Sie passen sie meistens automatisch an den vom User geschilderten Sachverhalt an.

Kosten: Nur wenn das Verfahren zugunsten der Verbraucher ausgeht, kassieren die Anbieter Provision - in den meisten Fällen sind das 30 Prozent der durchgesetzten Entschädigungssumme. Mitunter wird den Verbrauchern auch eine Sofortentschädigung geboten: Für das "schnelle Geld" sind dann 40 bis 45 Prozent der Entschädigungssumme als Provision fällig.