"Deutschland hat deshalb in der Corona-Krise mit dem Vorwurf des Egoismus zu kämpfen", sagt etwa Jana Puglierin, Europaexpertin des European Council on Foreign Relations (ECFR) zu Reuters. "Es beschämt mich, dass andere Hilfen schneller bei den anderen Europäer ankamen als von uns", kritisierte auch die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt in der Corona-Debatte um Mittwoch.
In Regierungskreise räumt man ein, dass längst ein Image-Schaden entstanden ist: Als "verheerendes Signal" sah man etwa in Brüssel den deutschen Exportvorbehalt für medizinische Schutzgüter an, den das Wirtschaftsministerium am 4. März erlassen hatte. Es sei fälschlicherweise der Eindruck eines "Deutschland first" entstanden. Zwar verhängten auch andere Länder wie Frankreich einen Ausfuhrstopp für Schutzausrüstung. "Aber die Hauptaufmerksamkeit liegt nun einmal auf Deutschland als stärkstem EU-Land", sagt ECFR-Expertin Puglierin.
Deutschland war zudem bereits in der Finanz- und Eurokrise sowie der Flüchtlingskrise etwa in Südeuropa vorgeworfen worden, stärker national als europäisch zu handeln, und wird seitdem misstrauisch beäugt. Dazu kommt der Eindruck, dass Deutschland mit bislang deutlich weniger Coronavirus-Toten weniger dramatisch betroffen ist als Italien, Spanien oder Frankreich. Deshalb hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinem italienischen Kollegen schon am 20. März einen handschriftlichen Brief geschrieben, um ihm die deutsche Solidarität zu versichern - und auf praktische Hilfe hinzuweisen. Sergio Mattarella mahnte in seinem Antwortbrief neben dem Dank prompt, dass "wir einen wirklich europäischen Geist konkreter Solidarität" brauchen.
Tatsächlich läuft jetzt eine breite grenzüberschreitende Hilfe an, was auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich am Mittwoch lobte: So wurde der Exportvorbehalt für Schutzausrüstung für EU-Partnerländer vergangene Woche wieder aufgehoben - allerdings erst auf Druck der EU-Kommission. Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, das Saarland, Rheinland-Pfalz und Sachsen versorgen nun einige französische und italienische Corona-Kranke. Und das Bundesgesundheitsministerium hat Italien vergangene Woche 300 Beatmungsgeräte zugesagt.
DAS PROBLEM DER KOMMUNIKATION
Doch bisher wurde dies von der Bundesregierung eher verschämt kommuniziert. "Denn wenn man großzügig etwa mit Beatmungsgeräten und Schutzausrüstung hilft, gibt es sofort Proteste und die Warnung, dass dann mehr Menschen in Deutschland sterben würden", sagt ein Regierungsvertreter zur Begründung. Diese Kritik habe man bereits im Januar angesichts der deutschen Hilfslieferungen für das damals stark Corona-betroffene China gehört. Allerdings schwant in Berlin langsam, dass man zu zurückhaltend war: Immerhin twittern die deutschen Botschaften in Frankreich und Italien jetzt über Hilfen aus Deutschland auf französisch oder italienisch.
"Diese Zurückhaltung ist ein großes Problem: Es braucht gerade jetzt eine starke Symbolik für europäische Solidarität", fordert ECFR-Expertin Puglierin angesichts der vor allem nationalen Reaktionen auf die Corona-Krise. Sie verweist darauf, dass Kuba, Russland und China ihre medizinischen Hilfen für Italien sehr medienwirksam verkauften. So entstehe der Eindruck, dass nur außereuropäische Länder Solidarität zeigten. "Mein Appell ist: Tue Gutes und rede darüber. Es gibt einen internationalen Kommunikations-Wettlauf über Hilfen in der Corona-Krise", sagt der Leiter der EU-Kommissionsvertretung in Deutschland, Jörg Wojahn, zu Reuters. Auch er kritisiert "unglückliche Signale" aus Deutschland. "Dabei ist in der Krise eine klare Kommunikation auch nach außen wichtig."
DEUTSCHE BREMSER?
Puglierin bedauert zudem, dass Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Ansprache an die Nation Europa nicht erwähnt habe. "Dabei ist klar: Wenn die Kanzlerin redet, hört ganz Europa zu." So verständlich es sei, die Deutschen auf die Dramatik der Lage im Land einzuschwören, so sehr müsse Merkel die Deutschen aber auch auf die bevorstehende Debatte in Europa vorbereiten. "Denn bisher gehörte Deutschland etwa in der Debatte um eine engere europäische Zusammenarbeit in der Gesundheitspolitik immer zu den Bremsern", sagt die EU-Expertin. Deutschland müsse seine am 1. Juli beginnende EU-Ratspräsidentschaft jetzt nutzen, um dies zu korrigieren, fordert Puglierin. Tatsächlich ging Vizekanzler Olaf Scholz am Mittwoch im Bundestag auf den Punkt der nötigen EU-Solidarität ein: "Deutschland wird an der Seite seiner europäischen Partner stehen", versicherte er gleich am Anfang seiner Rede.
Aber auch in der EU-Finanzpolitik gerät Deutschland unter Druck. Zwar will die Bundesregierung für die milliardenschweren Hilfen für Unternehmen und Selbstständige am Mittwoch die Schuldenbremse aussetzen und hat in der EU angesichts der Dimension der Krise auch für die Aussetzung der nationalen Defizit-Regeln im Stabilitätspakt gestimmt. Aber Frankreich, Spanien und Italien wollen mehr. Die Frage gemeinschaftlicher Anleihen etwa durch einen Coronabonds steht plötzlich wieder auf der Agenda. Auch das bisher von Deutschland, den Niederlanden und anderen nördlichen EU-Ländern vertretene Prinzip "Hilfe nur gegen Konditionen" soll fallen. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire deutete bereits an, wie die Debatte in den kommenden Wochen geführt werden wird: Wer jetzt gegen eine entschiedene finanzielle Antwort in Europa sei, der sei nicht solidarisch. Wirtschaftsminister Peter Altmaier nannte die Diskussion um Eurobonds dagegen im "Handelsblatt"-Interview eine "Gespensterdebatte".
rtr