Doch das Vorbild der US-Notenbank Fed, die zuletzt zweimal in Folge die Zinszügel so stark anzog und ein ungebrochener Preisauftrieb im Euro-Raum liefern dafür Argumente. "Ich werde 75 nicht unbedingt unterstützen, aber es gibt keinen Grund, warum das nicht diskutiert werden sollte", sagte einer von fünf Insidern der Nachrichtenagentur Reuters. "Wenn die Fed es getan hat, gibt es keinen Grund, warum wir es nicht zumindest auf den Tisch bringen sollten." Ein EZB-Sprecher lehnte eine Stellungnahme zu den Informationen ab.

Zwar erscheint ein Zinsschritt von 0,75 Prozentpunkten wegen der erwarteten Opposition von Währungshütern aus den südlichen Euro-Staaten derzeit eher unwahrscheinlich. Die Kommentare stützen aber Argumente für eine erneute kräftige Zinserhöhung um 0,50 Prozentpunkte im September. Dahingehende Erwartungen schürte zuletzt EZB-Direktorin Isabel Schnabel. Aus Sicht der deutschen Ökonomin haben sich seit der Juli-Zinssitzung die Inflationsaussichten nicht verbessert, wie sie vor einer Woche sagte. Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte auf dem Treffen die Zinswende eingeleitet und dabei die Schlüsselsätze anders als vorher in Aussicht gestellt um kräftige 0,50 Prozentpunkte angehoben. Es war die erste Erhöhung seit elf Jahren.

"Die Inflation breitet sich immer mehr aus und die Zweitrundeneffekte sind deutlich", sagte ein zweiter Insider. "Die Aussichten sind viel schlechter als wir im Juni projektiert hatten, daher stimme ich zu, dass 75 zumindest diskutiert werden sollte". An den Märkten wird inzwischen fest mit einer Erhöhung um 0,50 Prozentpunkte auf der Zinssitzung am 8. September gerechnet. Für die folgenden beiden EZB-Zinstreffen in diesem Jahr wird eine Anhebung von zusammen 0,75 weiteren Prozentpunkten erwartet. "Für mich sind 50 das Minimum. Es werden weitere Daten vor dem 8. September hereinkommen, aber nunmehr sehe ich ein starkes Argument für 75", ergänzte ein dritter Insider.

DROHENDE REZESSION KEIN HINDERNIS


Aus Sicht der Insider stellt eine drohende Rezession im Euro-Raum kein Hindernis für einen deutlichen Zinsschritt dar. Normalerweise verstärken Zinserhöhungen Rezessionen. Anhebungen in einen Abschwung hinein werden daher kritisch gesehen. Doch den mit den Überlegungen vertrauten Personen zufolge ist der Fall Europas derzeit besonders. Denn die Konjunktureintrübung ist in erheblichen Ausmaß eine Folge steigender Energiepreise und einer Verknappung von russischem Gas im Zuge des Ukraine-Kriegs. Gegen einen solchen sogenannten "Angebotsschock" sind allerdings die Mittel der Notenbank begrenzt.

Die Insider warnten davor, dass ein Nichthandeln der Notenbank bewirken könnte, dass Energie sich noch weiter verteuert. Dabei verwiesen sie darauf, dass sich der Kurs des Euro dann wahrscheinlich abschwächen würde. Zudem sehen sie die Gefahr, dass die langfristigen Inflationserwartungen aus dem Ruder laufen könnten. In diesem Fall müsse die Notenbank dann womöglich später noch viel mehr gegensteuern, führten sie aus. Aktuell liegen die langfristigen Inflationserwartungen zwar nicht weit vom EZB-Teuerungsziel von zwei Prozent entfernt - was anzeigt, dass Investoren der EZB-Politik grundsätzlich vertrauen. Doch es gibt inzwischen einige Hinweise dafür, dass sie sich davon entfernen, was Notenbanker als "Entankerung" bezeichnen.

Eine Entscheidung für ein Ende der Reinvestitionen beim billionenschweren Anleihenkaufprogramm APP wird auf der September-Sitzung eher nicht erwartet. Eine solche Entscheidung sei noch nicht nötig, sagten mit den Überlegungen vertraute Personen. Bislang stellt die EZB in Aussicht, dass die Wiederanlage der Gelder aus abgelaufenen Anleihen im APP-Programm noch für längere Zeit nach der ersten Zinserhöhung fortgesetzt werden soll. EZB-Direktorin Schnabel sagte jedoch kürzlich, dass einige Währungshüter das Thema auf der September-Sitzung ansprechen könnten. Insidern zufolge haben die Diskussionen darüber allerdings noch nicht begonnen. "Es besteht einfach keine Dringlichkeit", sagte eine der Personen. "Ich denke, die Zinsen sind derzeit unser Hauptfokus."

rtr