In London begann das Rennen um die Nachfolge von Premierminister David Cameron, der am Dienstag zum voraussichtlich letzten Mal an einem EU-Gipfel teilgenommen hatte. Auf beiden Seiten des Atlantiks rechneten Ökonomen mit Konjunkturdellen infolge des sich anbahnenden Brexit.

In Brüssel sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Entscheidung für einen britischen EU-Austritt gefallen sei. "Ich will ganz offen sagen, dass ich keinen Weg sehe, dies wieder umzukehren." EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker machten erneut deutlich, dass mit der britischen Regierung nicht verhandelt werde, bis nicht das Austrittsgesuch nach Artikel 50 der EU-Verträge eingegangen sei.

Die 27 Staats- und Regierungschefs hätten zudem glasklar gesagt, dass Großbritannien nur dann weiter freien Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalte, wenn es umgekehrt alle vier Grundfreiheiten der EU akzeptiere, sagte Tusk. Dazu gehört auch das Recht von EU-Bürgern, ihren Arbeitsort frei zu wählen. Allerdings war eine Reduzierung des Zuzugs von Polen und Rumänen auf die britischen Inseln eines der Hauptargumente der Brexit-Befürworter.

Erst nach dem Eingang des britischen Antrags zum Austritt sollen zweijährige Verhandlungen über den künftigen Status des Landes im Verhältnis zur EU beginnen. Die Periode könnte nur mit einem einstimmigen Votum der 27 Regierungen verlängert werden. Während der Verhandlungen ist Großbritannien weiter Vollmitglied der EU mit allen Rechten und Pflichten - muss also auch in den EU-Haushalt einzahlen.

Cameron hat angekündigt, dass er sein Amt im September an seinen Nachfolger übergeben will, der dann das Austrittsgesuch in Brüssel einreichen soll. Damit wird die Unsicherheit mindestens bis September anhalten, welchen Weg Großbritannien genau gehen wird.

"UM HIMMELS WILLEN, MANN, GEHEN SIE!"



In London forderte Cameron den umstrittenen Labour-Chef Jeremy Corbyn mit drastischen Worten auf, sich ein Beispiel an ihm zu nehmen und zurückzutreten: "Um Himmels Willen, Mann, gehen Sie!" Vielleicht sei es im Interesse von Camerons Partei, dass der Oppositionsführer Corbyn im Amt bleibe, aber es sei nicht im Interesse des Landes. Cameron erhielt für seine Äußerungen Applaus sowohl von seiner Tory-Partei als auch von Labour-Abgeordneten. Letztere hatten ihrem Parteichef am Dienstag ihr Misstrauen ausgesprochen.

Im Rennen um die Nachfolge Camerons warf Arbeitsminister Stephen Crabb seinen Hut in den Ring. Crabb sagte, als Regierungschef würde er enge Beziehungen zur Europäischen Union suchen. Das Brexit-Referendum vergangene Woche habe aber ein klares Resultat ergeben. Eine zweite Volksbefragung werde es nicht geben. Als aussichtsreichster Kandidat für die Cameron Nachfolge gilt bislang der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der sich für den Brexit stark gemacht hat.

Auch der Zerfall des Vereinigten Königreiches steht weiter im Raum: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon betonte in Brüssel, dass Schottland auf jeden Fall in der EU bleiben wolle. Die Parteiführerin der schottischen Nationalisten traf sich mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und wollte sich auch mit EU-Kommissionspräsident Juncker beraten. Die Schotten hatten beim Referendum vergangenen Donnerstag mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt.

BREXIT SORGT FÜR WACHSTUMSDELLEN



Durch das Votum der Briten drohen auf beiden Seiten des Atlantiks Wachstumseinbußen. Einem EU-Vertreter zufolge befürchtet die Europäische Zentralbank, dass die zu erwartende Konjunkturabkühlung im Vereinigten Königreich auch auf die Euro-Zone durchschlägt. Auf dem EU-Gipfel habe EZB-Chef Mario Draghi demnach von einem verringerten Wachstum um insgesamt bis zu einem halben Prozentpunkt in den kommenden drei Jahren gesprochen. Auch die deutsche Wirtschaft muss sich auf Gegenwind einstellen: Banken und Institute senken reihenweise ihre Prognosen für 2017, rechnen aber nicht mit einem Einbruch wie in der Finanzkrise.[

Auch die US-Wirtschaft dürfte nicht ungeschoren davonkommen, wie Jerome Powell von der Notenbank Fed befürchtet. Es bestehe das Risiko einer Verschlechterung der Weltwirtschaftslage, sagte er in Chicago. Die US-Notenbank sei auf alles vorbereitet.