Man respektiere, dass Großbritannien sich nun auf sich selbst konzentrieren wolle. Aber: "Es muss uns jetzt die Möglichkeit gegeben werden, dass wir uns mit der Zukunft Europas beschäftigen", forderte Steinmeier. Sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault nannte die rasche Einleitung des Austrittsverfahrens dringlich, um eine längere Phase der wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit zu vermeiden.

Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich zurückhaltender: "Ehrlich gesagt: Es soll nicht ewig dauern. Aber ich würde mich auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen." Sie gehe davon aus, dass Großbritannien das Votum nun auch umsetzen wolle.

Die Mitgliedstaaten sehen sich unter Zeitdruck für eine Neuordnung, da in mehreren Ländern nach dem Brexit-Votum Befürworter eines EU-Austritts Aufwind erhalten. In der Slowakei kündigte die rechtsgerichtete Volkspartei ein Bürgerbegehren gegen die EU-Mitgliedschaft an. Auch beim rechtsgerichteten Front National in Frankreich oder der linken Podemos-Bewegung in Spanien wird für den EU-Austritt geworben. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras machte die Sparpolitik in Europa mitverantwortlich für den Brexit. Diese Politik schüre den Nationalismus, sagte der Regierungschef des hochverschuldeten Landes.

GRÜNDUNGSMITGLIEDER: AUSTRITT ALS CHANCE NUTZEN



Die Außenminister der EU-Gründungsstaaten erklärten, sie wollten den Schock des Brexit als Chance nutzen, um Antworten auf bislang ungelöste Fragen zu finden. Dazu zählte Steinmeier die Flüchtlingskrise sowie die hohe Arbeitslosigkeit gerade unter Jugendlichen in den südlichen EU-Staaten. Man müsse den Menschen jetzt zeigen, dass die EU handlungsfähig sei. Zu den Gründungsstaaten gehören neben Deutschland auch Frankreich, Italien sowie die Benelux-Länder.

SPD-Chef Sigmar Gabriel verlangte: "Wir müssen aus dem Binnenmarkt auch einen Markt machen, in dem alle Menschen etwas davon haben." Der Nutzen der EU müsse stärker betont werden. Der Vizekanzler wies auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit etwa in Griechenland und Spanien hin, die verheerend sei. "Da geht die Idee Europas kaputt." Es gebe eine massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern in Europa. Bei Menschen in den Schuldenländern "wächst die Verachtung auf Brüssel und Berlin als Symbol des Austeritätsjochs".

Gabriels französischer Kollege Emmanuel Macron schlug vor, ein Konzept für eine erneuerte EU den Menschen zur Abstimmung vorzulegen. "Ich glaube, die Menschen müssen eingebunden werden, wir müssen ihre Meinung erfragen", sagte er.

JUNCKER: KÖNNTE WEITERE REFERENDEN GEBEN



EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte in der "Bild"-Zeitung, es könnten nun weitere Volksabstimmungen zum EU-Verbleib kommen. Allerdings werde man sehen, dass die Briten wirtschaftlich, sozial und außenpolitisch Nachteile durch den Austritt hätten. In Schottland, wo mehrheitlich für den EU-Verbleib gestimmt wurde, wird bereits ein neues Referendum für die Abspaltung von Großbritannien ausgelotet, um auf diesem Weg in der Gemeinschaft zu bleiben. Vor zwei Jahren hatte die Schotten in einer Volksabstimmung knapp gegen eine Abspaltung votiert.

Juncker kritisierte den britischen Premierminister David Cameron, der das Referendum angesetzt, aber für den EU-Verbleib geworben hatte. "Denn wenn jemand von Montag bis Samstag über Europa schimpft, dann nimmt man ihm auch am Sonntag nicht ab, dass er überzeugter Europäer ist." Auf Kritik stößt in der Gemeinschaft vor allem, dass Cameron trotz der verlorenen Abstimmung noch bis Oktober im Amt bleiben wolle. "Offen gestanden, ich finde das skandalös", sagte EU-Parlamentpräsident Martin Schulz in der ARD.

Der britische EU-Finanzmarktkommissar Jonathan Hill zog unterdessen Konsequenzen und trat zurück. "Ich glaube nicht, dass es richtig wäre, jetzt als britischer Kommissar weiter zu machen als ob nichts geschehen wäre", sagte Hill. Sein Nachfolger wird der lettische Vize-Kommissionspräsident Valdis Dombrovskis, der auch für Währungsfragen zuständig ist.

Knapp 52 Prozent der britischen Wähler hatten am Donnerstag für den Brexit gestimmt, etwas über 48 Prozent für den EU-Verbleib. An den Börsen löste das Votum am Freitag heftige Kursverluste aus, auch das Pfund verlor drastisch an Wert und fiel zeitweise auf das Niveau von 1985.