"Die neue Strategie ist ein starkes Fundament, das uns in der Geldpolitik in den kommenden Jahren leiten wird", sagte Notenbank-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag. Kern der bislang umfassendsten Überarbeitung der geldpolitischen Vorgehensweise ist ein neues Inflationsziel, das den Währungshütern etwas mehr Flexibilität erlaubt.
Die Euro-Wächter streben nun mittelfristig einen Anstieg der Verbraucherpreise im Euro-Raum von zwei Prozent an. Das ist eine leichte Erhöhung des Inflationsziels, das bisher auf unter, aber nahe zwei Prozent gelautet hatte. Diese Formulierung war aber in Misskredit geraten, weil sie aus Sicht vieler Experten nahelegt, die EZB wolle eine zu hohe Inflation stärker bekämpfen als eine zu niedrige. In den vergangenen Jahren war die Notenbank fast ausschließlich mit zu schwachem Wachstum und zu niedrigen Inflationsraten in den 19 Ländern der Euro-Zone konfrontiert. Erst das allmähliche Abklingen der Pandemie und der kräftige Anstieg der Preise - etwa für Rohstoffe wie Öl - hat die Inflationsrate im Euro-Raum im Juni auf 1,9 Prozent in die Höhe getrieben. Ihre bisherige Zielmarke verfehlte die EZB bereits seit Frühjahr 2013.
"Wir glauben, dass diese zwei Prozent, klarer und einfacher zu kommunizieren sind", sagte Lagarde. Damit stimme die EZB auch mit anderen Notenbanken rund um den Globus überein. Zwei Prozent sei die allgemein akzeptierte Definition für Preisstabilität. Die EZB erklärte, dass ihr neues Inflationsziel symmetrisch zu verstehen sei - also eine Abweichung nach oben und nach unten gleichermaßen unerwünscht sei. Wenn die Zinsen in der Wirtschaft besonders niedrig liegen, seien womöglich besonders starke oder langwährende geldpolitische Maßnahmen nötig. Dabei will die EZB auch ein zeitweises Übertreffen des Inflationsziels tolerieren. "Dies geht unter Umständen damit einher, dass die Inflation vorübergehend leicht über dem Zielwert liegt," erklärten die Währungshüter.
VOLKSWIRTE - EZB GIBT SICH MEHR HANDLUNGSSPIELRAUM
Aus Sicht von Ökonomen hat sich die EZB mit dem neuen Inflationsziel etwas mehr Spielraum verschafft. "Mit der Einführung eines symmetrischen Inflationsziels verfügt die EZB über eine größere Flexibilität", meinte Ralf Umlauf, Volkswirt bei der Helaba. "Da zudem das Ziel auf zwei Prozent angehoben wurde, kann davon ausgegangen werden, dass die Geldpolitik bis auf weiteres locker bleibt." Aus Sicht von Friedrich Heinemann vom ZEW-Institut wird es die EZB nun noch leichter haben, in den kommenden Jahren eine Fortdauer einer extrem lockeren Geldpolitik und der Anleihekäufe zu rechtfertigen. "Just in dem Moment, in dem einige Euro-Staaten in ihrer Finanzierung krisenbedingt vollkommen von den Anleihekäufen der EZB abhängig geworden sind, senkt der EZB-Rat seine langfristigen Ambitionen bei der Inflationsbegrenzung", kritisierte er. Der Wirtschaftsweise Volker Wieland vermisst unter anderem eine Analyse, ob die lockere Geldpolitik eine Rolle beim Aufbau der Finanzstabilitätsrisiken vor der Finanzkrise gespielt hat.
EZB NIMMT STÄRKERE ROLLE IM KAMPF GEGEN KLIMAWANDEL EIN
Neben dem neuen Inflationsziel hat sich die EZB zudem auf die Fahnen geschrieben, die sich aus dem Klimawandel ergebenden Risiken in ihrer Geldpolitik künftig stärker zu berücksichtigen und eine aktivere Rolle zu spielen. "Es sind nicht nur Worte, wir setzen uns mit den Problemen auseinander", betonte Lagarde. Der Klimawandel sei eine große Herausforderung für die Welt. Das kürzlich ins Leben gerufene Zentrum für Klimawandel der EZB soll die betreffenden Aktivitäten innerhalb der Zentralbank koordinieren. Bei den Anleihekäufen und bei den Sicherheiten in den Kreditgeschäften mit Banken soll künftig auch auf Klimakriterien geachtet werden. Einen detaillierten Plan dazu wollen die Währungshüter im kommenden Jahr veröffentlichen. Bei den Firmenanleihen die sie ankauft, müssen sich deren Emittenten künftig an die EU-Vorschriften zur Umsetzung der Ziele des Pariser Klimaabkommens halten.
Zudem will sich die EZB dafür einsetzen, dass künftig auch selbstgenutztes Wohneigentum in der Berechnung der Inflationsrate einbezogen wird. Im Unterschied zu anderen Währungsräumen wie den USA sind die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum nicht im Warenkorb des Europäischen Statistikamts Eurostat enthalten. Bislang werden dort nur Mieten erfasst. Die Währungshüter haben es allerdings nicht allein in der Hand darüber zu entscheiden, anhand welcher Faktoren Eurostat und die nationalen Statistikbehörden die Inflationszahl berechnen. Daher wollen sie in der Zwischenzeit Inflationsmessungen heranziehen, in denen die Schätzungen für diese Kosten berücksichtigt werden.
EZB-Chefin Lagarde hatte schon kurz nach ihrem Amtsantritt im November 2019 eine Überprüfung der Strategie angekündigt. Die Corona-Krise warf dann aber den Zeitplan durcheinander. Die Währungshüter hatten letztmalig im Jahr 2003 ihre geldpolitische Vorgehensweise überarbeitet. Damals hatten sie ihr mittelfristiges Preisstabilitätsziel von 1998 präzisiert. Die EZB plant die nächsten Strategiecheck nun für das Jahr 2025.
rtr