"Wir haben es wieder mit einem zunehmenden Trend der Armut zu tun." Als arm gelten dabei alle Personen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte erzielen.

Für einen Singlehaushalt waren das 2015 im Monat 942 Euro, für ein Paar mit zwei Kindern 1978 Euro. Die Linkspartei wertete die Zahlen als Beleg dafür, dass eine "radikale Umverteilung von oben nach unten" nötig sei.

SCHNEIDER BEGRÜSST GERECHTIGKEIT ALS WAHLKAMPFTHEMA



Mit Blick auf die Bundestagswahl geht der Wohlfahrtsverband von einem "Gerechtigkeitswahlkampf" aus. Die Präsidentenwahl in den USA habe vor Augen geführt, welche Ergebnisse möglich seien, wenn Ungleichheit von der Politik so "sträflich ignoriert" werde wie dort. Seither werde auch in Deutschland "sensibler und anders über Ungleichheit" diskutiert. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz "ist mit seinem Gerechtigkeitswahlkampf praktisch auf diese Sichtweise draufgesprungen", sagte Schneider. Schulz hatte zuletzt von einer "steigenden Ungleichheit" gesprochen und sich damit von der Union den Vorwurf eingetragen, er rede die Lage schlechter als sie sei.

Der im Frühjahr erwartete Armuts- und Reichtumsbericht der Bundsregierung lässt indes weiter auf sich warten. Der Entwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) liege im Kanzleramt, hieß es in Regierungskreisen. Ein Termin für die Kabinettsbefassung sei noch nicht absehbar.

SCHNEIDER: MESSLATTE IST DER DURCHSCHNITTLICHE WOHLSTAND



"Der Vergleichspunkt ist für uns der durchschnittliche Wohlstand in Deutschland", sagte Schneider. "Diese Statistik unterschätzt das Armutsrisiko eher als dass sie es überschätzt." Gemeinsam mit Verbänden für Alleinerziehende, Behinderte und Kinder legte der Wohlfahrtsverband den Armutsbericht 2017 vor, der auf Zahlen für 2015 beruht. Erhoben werden die Daten vom Statistischen Bundesamt, das im sogenannten Mikrozensus jährlich über 340.000 Haushalte befragt. Demnach legte die Armutsquote von 2014 auf 2015 um 0,3 Prozentpunkte zu, nachdem sie 2014 erstmals seit vier Jahren leicht gesunken war.

Besonders betroffen sind Erwerbslose (59 Prozent), Alleinerziehende (43,8 Prozent), Ausländer (33,7 Prozent), Menschen mit niedriger Qualifikation (31,5 Prozent) und Familien mit drei oder mehr Kindern (25,2 Prozent). Drastisch gestiegen sei die Armut unter Rentnern: Ihre Armutsquote habe innerhalb von zehn Jahren von 10,7 auf 15,9 Prozent zugelegt.

Im bundesweiten Vergleich stieg die Armutsquote gegenüber dem Vorjahr besonders stark in Berlin mit einer Zunahme um 2,4 Prozentpunkte auf 22,4 Prozent. Im Zehn-Jahres-Vergleich weise Nordrhein-Westfalen den stärksten Anstieg auf, und dort vor allem das Ruhrgebiet, wenngleich die Quote 2015 mit 17,5 Prozent im bevölkerungsreichsten Bundesland stagniert habe. "Das Ruhrgebiet und Berlin müssen daher als die armutspolitischen Problemregionen Deutschlands betrachtet werden", sagte Schneider. Alle ostdeutschen Bundesländer bis auf Berlin hätten im zurückliegenden Jahrzehnt ihre Armutsquoten merklich abgebaut, wenn auch weiter auf einem hohen Niveau. Die meiste Armut gebe es in Bremen mit einer Quote von 24,8 Prozent.

ARMUT HAT SICH VON WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG ABGEKOPPELT



Eine Prognose für das laufende Jahr wollte Schneider nicht wagen. "Die wirtschaftliche Entwicklung schlägt sich schon lange nicht mehr in einem Sinken der Armut nieder." Etwa 40 Prozent der Menschen seien nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt.

Positiv auf die Statistik dürften sich laut Schneider die Wohngeld- und die Bafög-Reformen der Regierung auswirken. Der Flüchtlingszuzug werde sich indes erst niederschlagen, wenn die Zugezogenen einen eigenen Hausstand führten. Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften würden in der Armutsquote ebenso wenig erfasst wie etwa 185.000 Studenten in Wohnheimen, etwa 335.000 wohnungslose Menschen, etwa 764.000 Pflegebedürftige in Heimen und über 200.000 Behinderte in stationären Einrichtungen.

Laut Schneider wären zweistellige Milliardenbeträge erforderlich, um den Armutstrend zu stoppen. "Wir haben das Geld in Deutschland." Notwendig sei eine Kehrtwende hin zu einer "solidarischen Steuer- und Finanzpolitik" zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte und der sozialen Aufgaben.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund warf dem Wohlfahrtsverband "Pauschalbewertungen" vor. Links-Parteichefin Katja Kipping sprach von einem "eklatanten Versagen der CDU/CSU- und SPD-geführten Bundesregierung".

rtr