BÖRSE-ONLINE.de: Die Autobranche war 2021 geprägt von Lieferengpässen und Chipmangel. Wie schätzen Sie das abgelaufene Jahr ein?
Ferdinand Dudenhöffer: Große Märkte wie die USA oder China schneiden im Jahr 2021 deutlich besser als Deutschland und Europa ab. So schlecht wie im Jahr 2021 war der deutsche Automarkt seit der Wiedervereinigung nicht. Deutschland leidet ganz besonders unter der Halbleiterkrise. Im Jahr 2020 waren die Rückgänge in den Automärkten direkt durch die Corona-Pandemie aufgrund von Lockdowns in der Fahrzeugproduktion und im Vertrieb verursacht. Die Pandemie-Folgewirkungen durch die Störungen beim Chipmangel traten allerdings erst 2021 ein. Unsere Hochrechnung der Pkw-Verkäufe der ersten neun Monate des Jahres zeigt, dass die Märkte Süd-Korea und Deutschland besonders stark von der Chipkrise betroffen sind. Da die nationalen Hersteller in ihren Heimatmärkten besonders hohe Marktanteile haben, ist dies ein Indikator dafür, dass die deutschen und koreanischen Autobauer besonders unter der Chipkrise leiden.
Ein Blick auf 2022: Wie geht es für die Automobilindustrie weiter?
Im Jahr 2021 wurden in Indien erstmals mehr Autos verkauft als in Deutschland. Auch im Jahr 2022 wird nach unserer Prognose Indien vor Deutschland liegen. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend: Erstens, muss man auch im ersten Halbjahr 2022 bei den deutschen Autobauern mit Engpässen bei Halbleitern rechnen. Zusätzlich können weitere Verwerfungen durch neue Covid-Wellen mit Omikron-Mutationen in Deutschland nicht ausgeschlossen werden. Erst in der zweiten Jahreshälfte 2023 kann man in Deutschland angebotsbedingt mit kräftigem zweistelligem Wachstum des Automarkts rechnen. Zum zweiten bleibt das erwartete Wirtschaftswachstum - gemessen am nominalen Sozialprodukt (GDP) - in Deutschland hinter Indien. Selbst das in unserer Prognose unterstellte Wachstum von zehn Prozent des deutschen Automarkts im Jahr 2022 reicht nicht aus, um Indien zu überholen. Dabei wurde trotz 8,5 Prozent GDP-Wachstum in Indien ein Automarkt-Wachstum von nur fünf Prozent unterstellt. In Brasilien und Russland sind auch 2022 keine erkennbaren Wachstumssprünge zu erwarten. Ob es Deutschland nochmals schafft, Indien bei den Autoverkäufen zu überholen ist offen.
Eine Studie des Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach bei Köln zeigt, wie unterschiedlich es zuletzt für die Autobauer lief: Volkswagen und Stellantis lieferten im September 2021 rund 30 Prozent weniger Autos aus als noch vor einem Jahr. Bei Daimler waren es sogar nur halb so viele wie im September 2020. Renault und BMW kamen mit einem Rückgang von 24 Prozent noch vergleichsweise glimpflich davon. Woher kommen diese Unterschiede?
Diese Vergleiche sollte man nicht auf Basis eines einzelnen Monats anstellen. Richtig ist allerdings, dass manche Autobauer stärker betroffen waren als andere. Insbesondere die deutschen Autobauer waren nach unserer Analyse stärker betroffen als etwa US-Unternehmen wie GM, Ford und Stellantis, oder auch als japanische Unternehmen wie Toyota. Die Hauptgründe für die Unterschiede liegen in den Einkaufsstrategien. In einigen Einkaufsbereichen wird sehr kurzfristig, also auf drei oder fünf Monate, bei Lieferabrufen geplant. Neue Modellgenerationen, die in der Regel mit deutlich erweiterten IT-Umfängen in den Markt kommen und damit einem deutlich größeren Halbleiter-Bedarf pro Fahrzeug aufweisen, werden zu spät im strategischen Einkauf geplant. AI-Modelle und -Algorithmen sind in den Einkaufsabteilungen wenig präsent. Die Welt der Excel-Tabellen dominiert. Fazit: Ein Teil des Problems liegt in den Schwächen der heutigen Einkaufsabteilungen.
Viele Hersteller profitieren vom sich erholenden chinesischen Markt. Hält diese Entwicklung weiter an?
Klar ist, China bleibt Wachstumschampion, aber neue Länder wie Indien werden spannend. Insgesamt ist das Jahr 2021 in China aufgrund Halbleiterengpässen schwer einzuschätzen. Da sind sicher Einmaleffekte dabei, so dass etwa GM oder Toyota Sprünge gegenüber VW gemacht haben. Aber das war ein besonderes Jahr. Spannend ist China wegen seiner immer stärkeren Technologieführerschaft. Nicht nur bei Lithium-Ionen-Batterien, sondern verstärkt bei IT und autonomes Fahren übernehmen China und chinesische Unternehmen Führungsrollen. Automärkte werden durch Wirtschaftswachstum und Innovationen getrieben. Musterbeispiele sind Tesla und der Durchbruch zum Elektroauto. China hat beides: Wirtschaftswachstum und Innovation. Von daher wird das Reich der Mitte zum Zukunftsland des Autos.
Durch die zunehmende Elektrifizierung und automatisiertes Fahren steigt der Bedarf an Halbleitern in der Autoindustrie weiter rasant an. Sind die Autobauer vor dem Hintergrund des Chipmangels dafür überhaupt gerüstet?
Ich bin sicher, dass aus den heutigen Halbleiterkrisen "Lessons Learned" gezogen werden. In hohem Tempo werden neue Halbleiter-Kapazitäten aufgebaut. Ein Großteil davon in China. Wenn dann die Einkäufer ihre Bereiche in der Zukunft mit mehr IT ausstatten, sollte die Halbleiterkrise Geschichte werden. Bis wir den Bottleneck überwunden haben, dürfte 2023 werden. Wichtig ist, bei Lithium-Ionen-Zellen nicht wieder ins gleiche Problem zu laufen. Sprich, die Branche muss ihre Einkaufsbereiche "modernisieren".
Mit den Materialengpässen gehen auch Preissteigerungen einher. Können sich diese am Markt durchsetzen?
Es gibt zwei Arten von Knappheiten in der Zulieferkette: Erstens, fehlende Produktionskapazitäten - wie bei den Chips. Das sind die schmerzhafteren Krisen, denn Kapazitätsaufbau braucht Zeit. Zweitens sind das Rohstoffengpässe. Die Krisen in diesem Bereich werden oft überbewertet. Seltene Erden sind Schlagwörter gewesen, die von Politikern gerne als Auftrag für Autonomieentwicklungen aufgegriffen wurden. Wenn wir ehrlich sind, sind seltene Erden deutlich weniger selten als es die letzten zehn Jahre immer wieder mal behauptet wurde. Die Welt besteht aus Preisen und Substitutionsbewegungen. Wenn der Preis steigt, finden wir immer wieder Substitute. Also Preissteigerungen sind zeitabhängig und laufen in Bewegungen. Insofern werden sie kurzfristig Preisspitzen auslösen können, aber auf mittlere und längere Frist werden zu hohe Preise die Entwicklung auf Substitute lenken.
Im September sind in Europa die Neuzulassungen der Autohersteller um 25 Prozent auf 972.723 gesunken - so wenig wie seit 1995 nicht. Als Hauptursache wird der Mangel an Halbleitern gesehen. Sehen Sie noch weitere beeinflussende Faktoren und wie geht es weiter?
Es ist überwiegend der Halbleitermangel. Sicher kommen noch Logistikverwerfungen dazu. Die Nebenwirkungen der Corona-Pandemie in Form von Lieferengpässen bei Halbleitern, Logistik-Turbulenzen, Rohstoffpreis-Steigerungen haben dem Weltautomarkt im Jahr 2021 deutlich ins Ungleichgewicht gebracht. Eine umfassende Erholung dürfte erst im Jahr 2023 um sich greifen. Dann könnte sich der Angebotsstau im deutschen Automarkt lösen. Mit einem Durchschnittsalter von mehr als zehn Jahren des Pkw-Bestands in Deutschland kann man ab dem Jahr 2023 mit einer Verjüngung des Fahrzeug-Bestands rechnen. Daher sind hohe Neuwagenverkäufe zu erwarten und Elektroautos treiben die Erneuerungswelle an.
Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschers Civey für die Automobilwoche zeigt: Über 40 Prozent der 5.011 Befragten (Beschäftigte der Automobilindustrie) sind der Meinung, dass die deutsche Automobilbranche noch nicht genug für Nachhaltigkeit tut. Was ist Ihre Einschätzung dazu und wie könnte die Branche grüner werden?
Die Zulieferer und Autobauer tun das, was Ihnen die Kunden und die Politiker vorgeben. Wenn wir auch mit der Ampel-Koalition und den Grünen es noch nicht mal schaffen, ein Ausstiegsdatum für den Verbrenner zu finden, die Kraftstoffsteuern lassen wir bisher, oder den teuersten Strom in der Welt haben, warum sollen dann Unternehmen Risiken auf sich nehmen, die nicht bezahlt werden? Nicht die Unternehmen stellen den Rahmen, sondern die Politik. Und die hat Angst vor dem Wähler, also den Civey-Befragten.
Der Automobilzulieferer Continental hat kürzlich gegenüber der FAZ geäußert, dass Kräfte gebündelt werden müssten, um auf die fortschreitende Digitalisierung der Branche zu reagieren. Im Gespräch sind neben Software für Infotainment und automatisiertes Fahren auch Betriebssysteme sowie darauf aufbauende Basisfunktionen. BMW und Volkswagen seien offen für solche Kooperationen. Was halten Sie davon, dass sich die hiesige Autoindustrie im Geschäft mit Software zusammenschließen könnte?
Es sieht eher so aus, als würden die Autobauer doch ein größeres Interesse haben, das wichtigste Produkte der Zukunft - die Software im Auto - in eigener Hand zu haben. Genau darin liegen die Wettbewerbsvorteile von morgen. Können Sie sich vorstellen, dass Elon Musk und Tesla in einer Kooperation Software für alle macht? Wohl eher nicht… Und alle sind ein bisschen Elon Musk. Die Beteuerungen gibt es immer wieder. Aber man kommt zu schnell zu strategischen Vorteilen und dann hört der Gemeinschaftsspaß auf.
Apropos Tesla: Geht der Höhenflug des Elektroautobauers weiter? Oder könnten neue Konkurrenten wie Rivian oder Lucid Tesla das Wasser abgraben?
Tesla ist gesetzt und wird zum größten Wettbewerber von BMW, VW und Toyota. Tesla ist unendlich dynamisch und innovativ. Bei Rivian wird es interessant, ob man den Sprung in die Scales schafft. Der Sprung in die Scales ist der Prüfstein.
Wie gut sind Europas Autobauer für die Zukunft gerüstet?
Um den VW-Konzern und Mercedes muss man sich keine Sorgen machen. BMW hat wichtige Zeit verloren und hat zu viel mit Nischen wie Brennstoffzellen experimentiert und ist weniger mutig in Skatebord-Fahrgestelle gestiegen. Die Schweden, also Volvo, sind mit Geely gut positioniert. Jaguar Land Rover und Renault sind sehr große Herausforderungen. Und Stellantis? Mal schauen was am Ende von dem Marken-Potpourri wirklich Kundenwerte schafft. Auch GM hatte mal 1000+1 Marken und ist nicht ganz glücklich damit geworden. Scales sind wichtig, aber eben auch nicht alles.