Viele Marktteilnehmer sind überrascht, in welchem Tempo die Energie- und Strompreise in diesem Jahr explodiert sind. 2020 brachen wegen der Corona-Pandemie Weltwirtschaft und Energieverbrauch extrem ein. Im Frühjahr 2020 kollabierten die Preise regelrecht. Das Ölkartell OPEC und Partnerstaaten wie Russland (OPEC+) sowie die US- Schieferöl-Produzenten nahmen die Förderung stark zurück. Dieses Jahr haben die Verbraucher nach dem "Re-Opening" großen Nachholbedarf. Das gilt für die Industrie genauso wie für die Konsumenten, die wieder verstärkt Auto fahren und in den Urlaub fliegen. Folge: Die weltweit gestiegene Nachfrage trifft auf ein knappes Angebot.
Dazu kommt, dass der Ölmarkt immer noch unter den Auswirkungen des Hurrikans Ida in den USA leidet und die OPEC+ ihre Förderdisziplin bisher beibehalten hat. Erdgas ist von der Entwicklung am stärksten betroffen. Die Gasspeicher waren nach dem kalten Winter 2020/21 nur noch unterdurchschnittlich befüllt. Zudem lieferten in diesem Sommer erneuerbare Energien wenig Strom, da 2021 ein windarmes Jahr war. Gas musste vermehrt zur Stromerzeugung genutzt werden. Als Gasimportland ist Deutschland von Lieferungen aus Russland abhängig. Doch auch die fielen unter anderem wegen der Kontroverse um die Inbetriebnahme der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 geringer aus als erwartet.
Trotz der aktuellen Engpässe sollte sich die Lage bald entspannen. Die hohen Energiepreise setzen einen starken Anreiz für die ölfördernden Staaten, ihre Produktion zeitnah zu erhöhen. Die OPEC hat zuletzt ihre Förderquoten weiter angehoben. Sie spürt auch zunehmend den politischen Druck großer Importländer wie China und Indien, die unter den hohen Preisen leiden. Der Ölpreis dürfte in einem Jahr bei rund 70 US-Dollar pro Fass der Nordsee-Sorte Brent liegen, zuletzt waren es mehr als 80 US-Dollar.
Bei Erdgas erwarten wir, dass die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 genehmigt wird und damit bereits im Winter zusätzliches Gas in Richtung Europa fließt. Das heißt, das Angebot steigt, während die Nachfrage aufgrund der hohen Preise bereits langsam zurückgeht. Mit Versorgungsengpässen im Winter ist daher nicht zu rechnen. Entsprechend dürften die Preise nicht weiter steigen. Im Gegenteil: Die Terminmarktpreise, die ab dem Frühjahr 2022 einen Rückgang um mehr als 50 Prozent zeigen, scheinen durchaus angemessen. Verbraucher müssen sich dennoch zunächst auf höhere Gas- und Stromtarife einstellen, da die höheren Preise erst mit Verzögerung von den Energieversorgern weitergegeben werden.
Die Energiewende sorgt mittelfristig für höhere Preise
Die zyklischen Gründe für die rekordhohen Preise am Energiemarkt sollten also in absehbarer Zeit nachlassen und für eine entsprechende Beruhigung sorgen. Mittelfristig steht der Markt jedoch vor einer tiefgreifenden strukturellen Veränderung. Die Dekarbonisierung der Energieversorgung ist unerlässlich, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Die gestiegenen Energiepreise berücksichtigen also erstmals tatsächlich die negativen externen Effekte der fossilen Brennstoffe auf die Umwelt. Energie aus diesen Quellen muss daher zwangsläufig teurer werden.
Aktuell befinden wir uns in einer Übergangsphase: Der Verbrauch fossiler Energien wird langfristig zwar drastisch zurückgefahren. Zurzeit können die erneuerbaren Energien den gewachsenen Bedarf aber noch nicht decken. Das ist ein weiterer Grund für die aktuelle Knappheit. Aufgrund der hohen Energiepreise wird in vielen Ländern der Klimaschutz vorübergehend zurückgestellt. So will beispielsweise China wieder mehr eigene Kohle fördern und verheizen.
Durch den verstärkten Rückgriff auf fossile Brennstoffe sollten sich die Energiepreise - vor allem in Europa, aber auch global betrachtet - in den kommenden Monaten wieder deutlich normalisieren. Die strukturellen Anpassungen im Zuge der Energiewende dürften aber mittelfristig zu höheren Kosten für diese Brennstoffe führen. Eine gewisse Knappheit wird so lange drohen, bis die erneuerbaren Energien die Lücke schließen können, die die geringere Nutzung von Öl und Erdgas hinterlässt.
Thomas Benedix:
Senior Portfoliomanager Rohstoffe
Als Functional Head of Commodities bei Union Investment vereinbart Benedix innerhalb der Gruppe Investment Strategy die Fundamentalanalyse sowie die Entwicklung der Investmentstrategien im Rohstoffsektor. Seine Preisprognosen und Investmentsignale dienen als Inputfaktor u. a. für die Rohstofffonds. Union Investment ist die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken. Mit aktuell rund 430 Milliarden Euro verwaltetem Vermögen ist sie einer der größten deutschen Vermögensverwalter für private und institutionelle Anleger.