Die Zeit ist da. Der EU-Gipfel nächste Woche soll die "Stunde der Wahrheit" werden, wie Ratschef Donald Tusk es nannte. Und tatsächlich scheint ein Durchbruch plötzlich möglich in diesem schier unendlichen Scheidungsdrama mit seinen vielen Kränkungen, Finten und Verirrungen. Unter der Hand sprechen EU-Diplomaten von echten Fortschritten. Öffentlich sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Signale aus Brüssel seien sehr positiv. Und Barnier kündigte an, man verhandele Tag und Nacht, damit eine Einigung nächste Woche "in Reichweite" sei.
Aber selbst wenn es so kommt: Die Gefahr großer Verwerfungen beim Brexit wäre damit nicht vorbei. Selbst dann wäre ein chaotischer EU-Austritt am 29. März 2019 nicht ausgeschlossen. Vom "Tanz auf der Brexit-Klippe" spricht der Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza. Wie es ausgeht? Wagt heute kaum jemand zu sagen. Doch es gibt einige plausible Szenarien.
WENN MAN SICH EINIGT
Soll bis zum EU-Gipfel am Mittwoch wirklich der von Tusk geforderte "maximale Fortschritt" erreicht sein, muss am Brüsseler Verhandlungstisch noch viel passieren. Die EU will bis dahin eine Grundsatzeinigung auf den Austrittsvertrag, von dem Barnier seit Monaten sagt, er sei zu 80 bis 85 Prozent fertig. Zum offenen Rest gehört die knifflige Irland-Frage: Wie vermeidet man Schlagbäume und Kontrollen zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, die den militanten Konflikt dort neu entfachen könnten?
Daran arbeitet man sich seit fast einem Jahr vergeblich ab. Nun heißt es in Brüssel, es eröffne sich ein Ausweg. Die britische Regierung nähere sich dem Gedanken, ganz Großbritannien im Notfall in einer Zollgemeinschaft mit der EU zu lassen und die allernötigsten Kontrollen britischer Waren auf den Weg nach Nordirland akzeptieren. In mühsamster Kleinstarbeit werde man bis Mittwoch versuchen, den Kompromiss für alle akzeptabel zu machen, sagen mit den Verhandlungen vertraute Personen.
Kommt es dazu, wäre der Weg womöglich frei für das Best-Case-Szenario: Bei einem EU-Sondergipfel Mitte November werden der Austrittsvertrag und eine "politische Erklärung" zu den künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien abgesegnet. Stimmen dann das Europaparlament und das britische Parlament zu, kommt nach dem 29. März eine knapp zweijährige Übergangsphase, in der sich praktisch nichts ändert für Bürger und Unternehmen. In der Zeit könnte man eine enge Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft aushandeln und fortan in guter Nachbarschaft leben.
WENN FAST ALLES GUT GEHT, ABER...
Der Idealfall ist deshalb so unwahrscheinlich, weil er die größte Unbekannte ausspart: Die britische Premierministerin Theresa May muss für das Austrittsabkommen eine Mehrheit im Parlament bekommen, und niemand kann sich zusammenreimen, wie das gehen soll. "Jeder Ausgang der Verhandlungen droht damit eine politische Krise in Großbritannien auszulösen, wodurch die Gefahr eines ungeordneten Austritts weiter steigt", meint von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
May hat seit einer schief gelaufenen Neuwahl 2017 keine eigene Mehrheit mehr, sondern ist auf die Stimmen der nordirischen Protestantenpartei DUP angewiesen. Die hat somit quasi ein Vetorecht
- und sie lehnt eine Lösung ab, bei der Nordirland quasi alleine
teilweise im EU-Binnenmarkt bleibt. Diese Woche drohte Parteichefin Arlene Foster bereits offen damit, May die Unterstützung zu entziehen.
Die Idee, Großbritannien möglicherweise unbefristet in der Zollunion zu belassen, trifft wiederum auf heftigen Widerstand bei Brexit-Hardlinern aus Mays eigener Partei. In einer Serie von Tweets ätzte der ehemalige Außenminister Boris Johnson diese Woche gegen die am Verhandlungstisch erwogenen Lösungen: Die würden "Großbritannien zu einer dauerhaften Kolonie der EU" machen. May müsste auf Unterstützung aus der Labour-Opposition hoffen, doch will Parteichef Jeremy Corbyn lieber selbst an die Macht. Bliebe die Aussicht auf Abweichler.
WENN ES SCHIEF GEHT - IN WESTMINSTER ODER BRÜSSEL
Die Premierministerin hat deutlich gemacht, dass die Parlamentarier in Westminster nur die Wahl zwischen ihrem Deal haben oder keinem. Das heißt: Die Abgeordneten stimmen entweder zu oder nehmen die Verantwortung eines chaotischen Bruchs auf sich. May erhöht den Druck und lockt zugleich mit der Übergangsfrist, die der Austrittsvertrag brächte. Bis Ende 2020 hätte man Zeit, alles im Sinne Großbritanniens zu regeln. Eine äußerst riskante Strategie, wie auch Diplomaten in Brüssel analysieren.
Scheitert sie, liefe erst einmal alles auf einen ungeregelten Brexit zu. Dann würde der Brexit-Sondergipfel im November wohl zum "Preparedness-Gipfel", bei dem man hektisch Notfallpläne für den Tag X durchdekliniert. Dasselbe Szenario droht, wenn es wider Erwarten bis Mittwoch doch nicht zum "maximalen Fortschritt" kommt - wobei Tusk hinreichend vage ließ, was er genau darunter versteht. Beim Abendessen am Mittwoch wollen Bundeskanzlerin Merkel und ihre EU-Kollegen ohne Großbritannien den Daumen heben oder senken.
MAN VERSUCHT ES NOCH EINMAL
Sollte eine Einigung jetzt wirklich scheitern - ob nun in Brüssel oder Westminster - blieben allerdings immer noch mehr als vier Monate für die Suche nach Lösungen. Der Politikwissenschaftler Simon Usherwood von der Universität Surrey glaubt, dass noch bis Ende des Jahres Zeit wäre, um sich zu einigen.
Selbst ohne Austrittsabkommen könnte man versuchen, mit Einzelvereinbarungen einige dramatische Auswirkungen - wie den Zusammenbruch des Flugverkehrs - abzufedern. Zölle und Kontrollen an den Grenzen wären aber wohl unumgänglich. Auch Millionen von EU-Bürgern in Großbritannien und Briten in der EU würden in Ungewissheit über ihre Rechte und Ansprüche gestürzt.
Möglich wäre auch, die Austrittsverhandlungen offiziell zu verlängern. Allerdings ginge dies nur auf britischen Antrag mit Billigung des Parlaments und nur mit Zustimmung aller 27 anderen EU-Staaten. Politikwissenschaftler Usherwood bezweifelt, dass sich die EU auf eine Verlängerung einlässt, solange sich in Westminster keine klare Richtung abzeichnet.
ALLES AUF ANFANG
Gibt es noch einen Weg zurück - den Exit vom Brexit? Tusk und andere haben immer wieder gesagt, die Tür bleibe offen. Und in Großbritannien gibt es seit Monaten anschwellende Rufe nach einem zweiten Referendum. Die oppositionelle Labour-Partei hält sich die Option offen. Auch die Schottische Nationalpartei und die Liberalen dürften mitziehen. Mithilfe einiger EU-freundlicher Konservativer könnte es dafür theoretisch eine Mehrheit geben.
Aber was soll man die britischen Wähler fragen? Eine einfache Wiederholung des Referendums von 2016 gilt als ausgeschlossen. Umfragen zeigen auch, dass es keinen wirklichen Umschwung gegeben hat und die britischen Wähler genauso gespalten sind wie damals. Voraussetzung wäre wohl auch, dass das Austrittsdatum hinausgeschoben wird. Auch eine Neuwahl scheint dann kaum zu vermeiden./vsr/DP/nas