Homma Munehisa kam 1724 als Sohn einer wohlhabenden Familie von Reishändlern in Sakata zur Welt, einer Stadt im Nordwesten von Japans Hauptinsel Honshu. Bereits mit 26 Jahren übernahm er das Familienunternehmen, handelte erst an der Reisbörse der Hafenstadt Sakata und zog dann nach Osaka, dem Zentrum des Reishandels, das den Beinamen "Küche Japans" trug. Hier hatten sich die großen Händler in Kartellen organisiert und kontrollierten die Preise.

Reis war damals mehr als ein Nahrungsmittel - er war Teil der japanischen Kultur und dominierte das Leben der Bewohner jener Dörfer, die ihn anbauten. Reis war kostbar, aus den Getreidekörnern wurde Sake gebraut, der berühmte japanische Reiswein. Wichtige Nebenprodukte waren Reiskuchen, Reismehl oder Reisessig. Oder Reisstroh, das ein wichtiger Bestandteil des Lebens in Japan war: Daraus machte man Hüte, Matten, Kleider, Werkzeuge und Reispapier, zudem Masken, Dekorationen und religiöse Statuen.

Reis war der Inbegriff der japanischen Wirtschaft. Die Reisbauern bezahlten den Feudalherren, Daimyos genannt, die Steuern in Form von Reis, diese verkauften das Getreide anschließend an die Händler. Reis war nicht nur das Hauptnahrungsmittel, es sollte bald sogar zu einer Ersatzwährung werden. Bis 1710 wurde an der Reisbörse Reis gegen Waren wie Seide oder Tee getauscht. Eine offizielle Währung konnte sich damals noch nicht durchsetzen. Aber einige der Feudalherren brauchten Geld, noch bevor sie die Ernte von ihren Bauern eingetrieben hatten. Die Warenhäuser begannen, anstelle von Reis auch Schuldscheine zu akzeptieren, die eine Lieferung erst Monate später in Aussicht stellten. Die Feudalherren verpfändeten ihre Ernte auf Jahre hinaus.

Erste Warentermingeschäfte


Diese Reiskupons - Verträge über ein Geschäft, bei denen Menge, Preis und Lieferdatum bereits festgelegt waren - wurden sehr schnell zu einer Art Ersatzwährung. Sie waren die ersten Warenterminkontrakte der Welt. Lag der Marktpreis zum Liefertermin über dem vereinbarten Preis, machte der Händler einen Gewinn, notierte er unter dem vertraglich fest­gelegten Preis, erlitt er einen Verlust. An der Reisbörse in Osaka, der Dojima, entwickelte sich ein reger Handel mit diesen Kupons. Doch mit der Zeit kamen mehr Reiskupons in Umlauf, als es Reis gab. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Japan beinahe die vierfache Menge an Reis durch Kupons gehandelt, als produziert wurde.

Etwa um diese Zeit, 1750, begann Homma seine Karriere als Händler. Seine Familie besaß im 600 Kilometer entfernten Sakata im Nordwesten der Insel riesige Reisfelder. Theoretisch bedeutete dies einen großen Informationsvorsprung, denn er hätte damit früh gewusst, wie die aktuelle Erntesituation ist. Ihm war klar: Information ist in diesem Geschäft Gold wert. Nur: Wie kommt man rechtzeitig an diese Information? Pferde waren zu langsam, die reitenden Boten oft unzuverlässig. Aber Homma fand eine Lösung: Er baute ein eigenes Kommunikationssystem auf. Es bestand aus einer Kette von 150 Menschen, die zu einer bestimmten Tageszeit von Hausdächern und Türmen aus mithilfe von farbigen Flaggen Informationen über die Ernte in Sakata nach Osaka übermittelten.

Jahrelang hatte Homma versucht, das Geheimnis der Marktbewegungen zu ergründen. Jeden Tag zog er sich in den kleinen Garten seines Hauses zurück. Dort stand ein großer, mit Moos bewachsener Stein, umspült von einem Bach und umgeben von zwei Kirschbäumen. Indem er sich, fast wie in einer Meditation, auf den Stein fokussierte, entwickelte er im Geiste ein visuelles System von Symbolen, mit dem er die Kursentwicklungen dokumentieren und gleichzeitig Muster erkennen konnte, die sich immer aufs Neue wiederholen und so für seine Handelsstrategien genutzt werden konnten. Das war die Geburtsstunde der sogenannten Candlestick-Charts, die noch heute die Sprache der Finanzmärkte sind und wesentliche Bestandteile der klassischen Chartanalyse.

Von nun an markierte Homma jeden Tag in der Reisbörse auf dünnem Reis­papier die Symbole, die entfernt an Kerzen erinnern: Ein rechteckiger Körper, manchmal mit einer Art Docht versehen, der nach unten oder nach oben zeigt. Der Körper der Kerze zeigt die Differenz zwischen dem Eröffnungskurs und dem Schlusskurs an. Die Größe des Körpers gab Auskunft über die Stärke der Käufer am Markt. Je größer der Kerzenkörper, umso dominanter war die Aufwärtsbewegung. Die kleinen Striche, die sich oberhalb und unterhalb des Körpers befanden, spiegelten den Höchst- und den Tiefststand wider.

Homma erkannte Muster und repetitive Signale in den Kursbewegungen, mit deren Hilfe er zukünftige Preisbewegungen vorhersehen konnte. Er studierte zudem die historischen Reispreise, analysierte Wetterdaten und beschäftigte sich mit der Psychologie der Marktteilnehmer. Seine Vorhersagen waren dadurch genauer als jene anderer Reishändler, und entsprechend konnte er günstiger kaufen und verkaufen. Überliefert ist folgende Episode, wie sie Torsten Dennin in seinem Buch "Von Tulpen zu Bitcoins" beschreibt: "Über Tage kaufte Homma an der Reisbörse von Dojima immer mehr Reis von verkaufs­willigen Reisbauern, die aus dem Landesinneren gekommen waren, um ihre Waren anzubieten. Die großen Händler des Kartells zeigten sich erst indifferent und warteten ab - eine bewährte Taktik, um die Preise zu drücken.

Aber Homma schien über mehr Wissen zu verfügen als seine Kollegen. Immer wieder zog er sein dünnes Reispapier mit sonderbaren Symbolen zurate. Am vierten Tag traf ein völlig erschöpfter Reiter aus dem Landesinneren in Osaka ein, der von starken Unwettern berichtete, die praktisch die ganze Ernte vernichtet hätten. Die Preise für Reis an der Dojima-­Börse schnellten in die Höhe, doch es war kaum mehr Reis zu bekommen, alle Bauern hatten bereits an Homma verkauft. So soll Homma, der über sein Informationssystem von der Katastrophe unterrichtet war, innerhalb von vier Tagen den gesamten Reismarkt von Japan unter seine Kontrolle gebracht und dabei ein Vermögen verdient haben."

Mehr als nur Charttechnik


Der Kaiser ernannte den "Gott der Märkte", wie Homma nun genannt wurde, zu seinem Finanzberater und erhob ihn als Samurai in den Adelsstand. Er war zum reichsten Mann Japans geworden. Es sollten indes noch knapp 200 Jahre vergehen, bis Hommas Handelsstrate­gien im Westen bekannt wurden: Zu Beginn der 1980er-Jahre wurde der junge amerikanische Händler Steve Nison auf die Kerzensymbole aufmerksam und machte sie 1989 in einem Buch ("Technische Analyse mit Candlesticks") der Finanzgemeinde zugänglich. In den darauffolgenden zehn Jahren sollten die japanischen Kerzencharts auch den Westen erobern.