Europa gilt aufgrund der Abhängigkeit von russischen Rohstoffen und der begrenzten Handlungsfähigkeit der Europäischen Zentralbank als akut rezessionsgefährdet. Warum Francis Ellison, Client Portfolio Manager europäische Aktien bei Columbia Threadneedle, trotzdem glaubt, dass sich mit europäischen Aktien Geld verdienen lässt.

Euro am Sonntag: In regelmäßigen Abständen rufen Vermögensverwalter ein Comeback der europäischen Aktien aus. Sind wir davon aktuell weiter entfernt denn je?

Francis Ellison: Wir werden alle dafür bezahlt, Optimisten zu sein. Eigentlich ist dieser Optimismus auch eine gute Sache, denn die Aktienmärkte steigen langfristig, weil sie den Gewinnen folgen. Und solange Unternehmen Wege finden, ihre Gewinne zu steigern, wird der Markt langfristig steigen. Aber die letzten sechs Monate waren wirklich unglaublich schmerzhaft. Unsere Hauptthese als Bottom-up-Manager für Wachstumsqualitätsaktien in Europa ist jedoch, dass man mit europäischen Aktien trotz der sehr schwierigen Zeiten immer noch Geld verdienen kann. Auch wenn das arrogant klingt: Es ist mir egal, ob es in Europa viele schlechte Unternehmen gibt, solange wir die gut finden.

Freuen Sie sich aktuell über die Gelegenheit, Aktien günstig einsammeln zu können, oder ist die Devise gerade eher "Augen zu und durchhalten"?

Das Problem ist, dass wir von einem voll investierten Portfolio ausgehen. Wir müssen also sowohl Dinge finden, die wir verkaufen, als auch solche, die wir kaufen können. Das ist manchmal eine Herausforderung. Die Antwort ist, dass man manchmal gar nichts unternimmt, weil man die Chance nicht unbedingt als so groß ansieht. Die aktuellen Veränderungen haben mit den Zinssätzen und dem Ölpreis zu tun. Das sind Faktoren, die auf kurze Sicht dominieren, und das werden wir überstehen. Irgendwann schaltet der Markt um, dann werden die Investoren wieder sagen: Ich will kaufen, um Aktien von Unternehmen mit qualitativ hochwertigen Geschäftsmodellen zu halten. Das wird sich dann auch positiv auf ein solches Portfolio auswirken.

Und wie beeinflusst die Inflation Ihre Entscheidungen und Investitionen?

Die direkte Inflation ist eine echte Hilfe für uns. Denn wenn wir Unternehmen kaufen, bezieht sich ein Großteil unserer Risikoanalyse auf die Preissetzungsmacht. Wenn die Kosten um zehn Prozent steigen, können diese Firmen ihre Preise um mindestens genauso viel erhöhen. Inflation ist daher gut, denn die Konkurrenten dieser Unternehmen können das wahrscheinlich nicht tun. Indirekt ist Inflation eine große Bedrohung. Denn Inflation führt zu hohen Zinssätzen. Und wenn die Zinsen völlig aus dem Ruder laufen, dann will man wahrscheinlich keine Anleihen, Aktien oder sonst etwas besitzen.

Erwarten Sie, dass es so weit kommt?

Wir glauben nicht, dass das der Fall ist. Aber wir glauben, dass das, was wir in den letzten sechs Monaten gesehen haben, eine große, eine einmalige Korrektur war. Die Zinssätze sind jetzt nicht mehr lächerlich niedrig, sondern nur noch niedrig. Das stimmt mich hoffnungsvoll. Denn die längerfristigen Anlagen, in die wir investieren, haben korrigiert und werden das noch weiter tun. Aber diese Korrektur wird zu Ende gehen, und wir werden zu der These zurückkehren, dass der Aktienkurs die langfristige Gewinnentwicklung widerspiegelt. Wenn man also Unternehmen kauft, die langfristig Gewinne erwirtschaften, sollten sie sich besser entwickeln als der Markt.

Sie sind stark im Luxussegment investiert. Was macht Sie so sicher, dass Unternehmen wie Kering oder LVMH mit der Inflation fertigwerden können?

Die ultimative Definition eines starken Luxusmarkenprodukts ist, dass die tatsächlichen Kosten des Produkts in keinem Verhältnis zu dem stehen, was der Verbraucher dafür bezahlt. Wenn der Preis einer Schweizer Uhr von einem Tag auf den andern um zehn Prozent steigt, werden wahrscheinlich mehr Leute sie kaufen wollen, weil es ein Gefühl des Wohlstands und der Wichtigkeit vermittelt, dass man sich diese Uhr leisten kann. Das ist der Grund, warum wir Luxus mögen und im Threadneedle European Select etwa LVMH hoch gewichtet haben, weil es diese starke Preismacht hat. Wenn wir in eine Rezession geraten, werden nicht die Käufer von Louis-Vuitton-Handtaschen oder anderen Topluxusprodukten am meisten leiden, sondern Menschen am unteren Einkommensende. Das ist, glaube ich, gesellschaftlich sehr schlecht. Aber es bedeutet, dass die Geschäftsmodelle von Luxuskonzernen gut unterstützt werden.

Wie haben sich die Corona-Beschränkungen in Asien, insbesondere in China, auf die Luxuskunden ausgewirkt? Die Region gilt ja als wichtigster Markt für Luxusgüter.

Es gibt zwei widersprüchliche Faktoren. Wenn man eingesperrt ist und immer noch gutes Geld verdient, dann kann man es genauso gut für einen Onlinekauf eines schönen Produkts ausgeben. Aber der andere Faktor in dieser Situation ist die Frage, was es bringt, im Lockdown eine schöne Uhr zu kaufen, wenn man sie niemandem zeigen kann. Und ich denke, die Luxusprodukte variieren stark in diesem Spektrum. Die Unternehmen, die wir kaufen, sind im Allgemeinen recht gut gegen diese Entwicklung abgesichert.

Inwiefern?

Kosmetika sind in der Regel sehr lange haltbar. Wenn eine Flasche Parfüm in einem Regal in Hongkong steht und Hongkong abgeriegelt ist, kann man sie in einen Container packen und nach New York schicken und sie genauso gut dort verkaufen. Bei Autos funktioniert das nicht so, denn erstens ist es teuer, das Auto nach Amerika zu schicken, und zweitens ist es nicht für den amerikanischen Markt geeignet, weil Autos in Amerika anders sind als in Hongkong. Es handelt sich also um eine sehr, sehr unterschiedliche Dynamik in den verschiedenen Sektoren.

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