Die EZB begründet ihre ultralockere Geldpolitik damit, den Euroraum vor einem möglichen Abrutschen in die Deflation zu bewahren. Halten Sie diese Begründung für gerechtfertigt?
Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu erkennen, dass die Deflationsargumentation vorgeschoben ist. Als in der Vergangenheit der Ölpreis stieg und die Inflationsraten erhöhte, erklärten die Notenbanker, dies spiele keine Rolle und verwiesen auf die Kerninflationsrate, die Veränderungen der Energiepreise außen vor lässt. Sieht man sich die derzeitige Kerninflationsrate an, spricht sie nicht für Deflation. Insofern hat die extrem expansive Geldpolitik der EZB sicherlich andere Gründe.

Manche Volkswirte warnen dennoch vor den Gefahren einer Deflation. Liegen die falsch?
Die Volkswirtschaftslehre ist voll von Thesen, die nicht bewiesen sind. Sie werden ständig widerlegt, aber trotzdem nicht über Bord geworfen. Eine dieser Thesen betrifft die Deflation. Wir haben in bestimmten Bereichen eine radikale Deflation, beispielsweise bei elektronischen Geräten - aber von Kaufzurückhaltung keine Spur. Es gibt keinen empirischen Beleg dafür, dass sich das Kaufverhalten der Verbraucher ändert, falls wir eine Zeitlang sinkende Preise haben sollten. Aber es gibt sehr viele Anzeichen dafür, dass die demografische Struktur einer Bevölkerung starken Einfluss auf das Kaufverhalten hat. Wir stehen in Deutschland vor einer dramatischen Schrumpfung der Bevölkerung, die in vielen Konsumbereichen dämpfend auf die Inflation wirkt.

Sind andere Begründungen der EZB für ihre Politik stichhaltig?
Sie sind gut nachvollziehbar, aber nicht im Interesse aller Euroländer, sondern insbesondere im Interesse derer mit ernsthaften Problemen. Das sind zum Beispiel Länder mit einer furchtbar hohen Jugendarbeitslosigkeit und entsprechenden sozialen Problemen. Das ist ein Zustand, der in Demokratien untragbar ist, nicht nur aus dem Blickwinkel einer verlorenen Generation, sondern auch wegen des daraus möglicherweise resultierenden Wählerverhaltens. Insofern sind gewisse Maßnahmen unerlässlich. Eigentlich müssten die betreffenden Regierungen etwas tun, was jedoch nicht im nötigen Ausmaß geschieht. Aus Sicht der betroffenen Länder ist das Staatsanleihen-Kaufprogramm der EZB daher eine Möglichkeit, die dramatische Lage zu verbessern.

Auf Seite 2: Der Stellenwert Griechenlands





Griechenland ist ein Beispiel dafür, wie stark sich das Wählerverhalten durch soziale Probleme ändern kann. Wie wichtig ist das Land für den Euro?
Der Anteil Griechenlands an der Wirtschaftsleistung der Eurozone liegt bei nicht einmal drei Prozent. Insofern spielt das Land für den Euro keine große Rolle. Aber wenn der Front National in Frankreich oder Podemos in Spanien weiter erstarken, bekommen wir in Europa bedenkliche politische Verhältnisse.

Die Börse reagiert auf die Grexit-Gefahren in Griechenland relativ gelassen. Sind sie überhaupt kein Problem für den Euro?
Sie sind insofern kein Problem mehr, als die griechische Verschuldung sich zum großen Teil bereits in staatlichen Händen befindet, bei den Rettungsschirmen und der EZB. Es ist ein Problem der Steuerzahler, nicht mehr der Währung.

Was bedeutet die EZB-Politik aus Sicht Deutschlands?
Für Deutschland, Österreich, die Niederlande, kurz gesagt für die Euro-Nordländer, ist das EZB-Programm unverständlich. Das Problem ist, dass der Euro-Währungsraum sehr heterogen ist. Das macht eine Argumentation und Geldpolitik der EZB, die alle Länder zufriedenstellt, unmöglich.

Kann der Euro auf Dauer Bestand haben, wenn die Tendenzen in Richtung politische Radikalisierung gehen und die EZB keine Geldpolitik betreiben kann, die den starken und den schwachen Ländern des Währungsraums gerecht wird?

Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, alle Länder einigen sich darauf, eine schwache Währung zu haben. Eine starke Währung nützt einer starken Wirtschaft, ist aber für eine schwache Wirtschaft ein Problem. Eine starke Wirtschaft wie Deutschland verkraftet eine schwache Währung. Akzeptieren wir eine schwache Währung, sollten wir allerdings unsere Politik in Deutschland ändern. Dann brauchen wir stärker steigende Löhne, Steuerentlastungen, Budget- und Verschuldungsniveaus wie die Euro-Südstaaten, um einen homogenen Währungsraum zu erreichen. Erreicht man das, kann die EZB eine Geldpolitik für alle machen. Wenn Deutschland spart und die anderen Länder nicht, ist das komplett sinnlos und geht letzten Endes auf Deutschlands Kosten.

Dann würden die Schulden in der Eurozone weiter rasant steigen.
Die Verschuldung stellt ja kein großes Problem dar, da sie ohnehin von der EZB aufgekauft wird.

Auf Seite 3: Wenn alle einen schwachen Euro wollen





Und was passiert, wenn nicht alle Länder einen schwachen Euro wollen?
Man bekommt die Heterogenität des Währungsraums offensichtlich nicht in den Griff, indem man die schwachen Länder zu starken machen will. Es ist nicht einmal bei Griechenland geregelt, wie ein Euro-Austritt aussehen soll. Die anderen Länder können nicht beschließen, dass Griechenland austreten muss. Eine naheliegende Lösung wäre, dass die Länder, die eine andere Notenbankpolitik wollen, aus dem Euro-Währungsraum austreten. Denn der freiwillige Austritt ist ja möglich. Das müsste, wie die Loslösung des Schweizer Franken vom Euro, über Nacht geschehen, also überraschend. Politisch ist das sicherlich nicht sinnvoll, aber ökonomisch naheliegend.

Bräuchte man nicht klare Regeln, was mit einem Land geschieht, wenn es mit dem Euro nicht zurechtkommt?
Der große Konstruktionsfehler ist, dass man nicht bindend festgelegt hat, was mit Staaten passiert, die sich nicht an die Regeln halten. Dieser Konstruktionsfehler ist bis heute nicht behoben, wobei man auch zugeben muss, dass eine Lösung schwierig ist. Aber er bedeutet für einige Länder eine Alternativlosigkeit, die im Grunde unerträglich ist.

Kann die EZB überhaupt etwas zur nachhaltigen Stärkung schwacher Länder bewirken?
Es ist nicht einmal klar, ob die EZB mit ihrer Politik kurzfristig etwas erreichen kann. Wir wissen nicht, warum Quantitative Easing in Japan gescheitert ist und ob QE verantwortlich ist, dass die US-Wirtschaft wieder in Schwung gekommen ist. Vielleicht hat das ganz andere Gründe, etwa den Fracking-Boom oder die demografische Entwicklung in Amerika.

Auf Seite 4: Wie gut die EZB wirklich arbeitet





Macht die EZB überhaupt für jemand in der Eurozone die passende Politik?
Es gibt einen knallharten Interessenskonflikt zwischen Gläubigern und Schuldnern. Die Zinsen auf null zu senken ist das Schönste, was man für Schuldner machen kann. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Schulden und Vermögen. Je stärker eine Notenbank ihre Interessen an den Schuldnern ausrichtet, weil sie unter allen Umständen vermeiden will, dass es Insolvenzen gibt, umso mehr nähern wir uns einer Welt, in der es keinen Unterschied mehr macht, ob man Vermögen oder Schulden hat.

Betreibt die EZB ihre extreme Geldpolitik nicht auch aus Eigeninteresse? Gibt es den Euro nicht mehr, wird auch die EZB nicht mehr benötigt.
Natürlich, ohne Euro keine EZB. Sie kann sich nur selber abschaffen. Das ist das Letzte, was sie möchte.

Bundesbank und Bundesregierung sind gegen das QE-Programm der EZB. Könnten sie etwas unternehmen, um es zu stoppen?
Unsere Demokratie basiert auf Gewaltenteilung. EZB und die Gremien der Rettungsfonds befinden sich bereits jenseits der Demokratie, sie sind nicht verpflichtet, Parlamente zu konsultieren. Nun wird aber offenbar auch noch die unabhängige Gerichtsbarkeit abgeschafft. Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof begründete seine Entscheidung, die EZB dürfe grundsätzlich Staatsanleihen kaufen, mehr oder weniger damit, dass Gerichte die EZB möglichst wenig kontrollieren sollten, weil ihnen die Erfahrung auf diesem Gebiet fehle. Das würde bedeuten, dass es auch kein juristisches Korrektiv mehr gäbe. Dabei ist die große Frage, ob das Handeln der EZB im Einklang mit den Verträgen steht und noch rechtskonform ist. Wenn es das nicht ist, müssten die Gerichte einschreiten. Es kann nicht sein, dass etwas Zentrales wie die Währungspolitik jenseits der Rechtsordnung agiert. Dann hätten auch die Politiker wieder eine Handhabe. Aber so sehe ich keine Möglichkeit der deutschen Regierung, korrigierend einzugreifen.

Auf Seite 5: Handeln wie die die Schweiz?





Deutschland könnte dem Beispiel der Schweiz folgen, das ja durch die Bindung des Franken an den Euro eine Art informelles Mitglied der Eurozone war - und aus dem Euro aussteigen. Wäre das denkbar?
Es wäre theoretisch denkbar, dass Deutschland aus dem Euro aussteigt, weil die Währungspolitik nicht zum hiesigen Wirtschaftsraum passt. Man müsste dann aber Länder wie die Niederlande und Finnland ebenfalls einladen, die Eurozone zu verlassen. Die neue Währung dieser Länder würde sich dann sofort aufwerten. Sie würden die Weichwährung Euro wieder durch eine harte Währung ersetzen.

Parteien wie die AfD in Deutschland, der Front National in Frankreich oder Podemos in Spanien haben mächtig Auftrieb. Wohin führt das längerfristig?
Damit dürften die Interessenkonflikte in der Eurozone weiter zunehmen, die Heterogenität immer größer werden. Ich glaube nicht, dass es den Euro in der heutigen Form in zehn Jahren noch geben wird.

Was wird an die Stelle des Euro treten?
Das Wahrscheinlichste ist, dass es wieder mehr nationale Währungen gibt, aber auch eine Währungsvereinbarung wie Bretton Woods. Die Kurse werden also in bestimmten Bandbreiten schwanken dürfen.

Auf Seite 6: Was Anleger beachten sollten





Was bedeutet die EZB-Geldpolitik für Anleger?
Die von der EZB ausgehende Geldschwemme führt dazu, dass Geld fast nichts kostet. Das bedeutet, dass alle Vermögenswerte noch zu billig sind. Selbst Immobilien in Deutschland sind dann noch zu billig.

Das würde heißen, dass wir noch keine Spekulationsblasen haben, etwa an den Aktienmärkten?
Es ist ja schwierig, Blasen zu identifizieren. Aber man kann sich schon an Dingen wie der Gewinnsituation der Unternehmen und der Höhe von Dividenden orientieren. Wenn man das macht, spricht wenig dafür, dass wir am Aktienmarkt eine Blase haben.

Was würden Sie Privatanlegern in der jetzigen Situation empfehlen?
Auf jeden Fall breit streuen, verschiedene Währungen, verschiedene Anlageklassen, keine Angst vor Aktien. In unsicheren Zeiten - und die Zeiten sind immer unsicher - hilft nur eine breite Streuung des Vermögens. Letzten Endes hängt alles an der Ertragskraft der Wirtschaft. Wenn das so ist, kann es aus fundamentaler Sicht für einen langfristigen Investor nicht falsch sein, den internationalen Aktienmarkt als Kern der Investments zu sehen.