"Wir sind zu einem Schnarchland geworden, weil es uns zehn Jahre richtig gutging." Für Kempf kann es so nicht weitergehen: "Durch diese Regierung muss ein Ruck gehen für mehr Investitionen."

Die Unzufriedenheit mit der großen Koalition teilen viele Wirtschaftsvertreter. Die Nachrichtenagentur Reuters hat zum Jahreswechsel die großen Verbände befragt. Sie rechnen 2020 mit einem konjunkturell erneut schwachen Jahr. Ihre Hauptforderung lautet: Die Steuern müssen runter, damit Firmen mehr Spielraum für Investitionen haben. Außerdem pochen sie auf weitere Maßnahmen, um den Fachkräftemangel zu beheben.

Und die Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrer Regierung aus Union und SPD wird nicht mehr nur in Hintergrundgesprächen geäußert. "Innenpolitisch hat die Regierungskoalition in der ersten Hälfte der Legislaturperiode wenig auf den Weg gebracht, was sich stärkend auf die deutsche Wirtschaftskraft hätte auswirken können", sagt der Generalsekretär des Handwerksverbandes ZDH, Holger Schwannecke. "Das größte Risiko in dieser Hinsicht ist daher, dass die Koalition ihren bisherigen, vor allem sozialpolitisch ausgerichteten Kurs fortschreibt." Firmen warteten dagegen schon lange auf Entlastungen. "Das Bürokratieentlastungsgesetz III etwa, das maßgeblich dazu hätte beitragen können, war aber eine Enttäuschung."

DIHK-Präsident Eric Schweitzer verweist darauf, dass die letzte Unternehmenssteuerreform bereits mehr als zehn Jahre zurückliegt. Kurzfristig könnten Abschreibungsmöglichkeiten verbessert werden. "Ein wichtiges Signal wäre ein international wettbewerbsfähiger Unternehmenssteuersatz von 25 Prozent." Hiervon ist Deutschland den Verbänden zufolgen rund zehn Punkte entfernt. "Mehr als überfällig ist die Abschaffung des Solidaritätszuschlages für alle Unternehmen", so Schweitzer. SPD-Finanzminister Olaf Scholz will aber gut verdienende Unternehmer weiter in die Pflicht nehmen, weil die Wiedervereinigung aus seiner Sicht noch nicht vollendet ist.

Der Präsident des Großhandelsverbandes BGA, Holger Bingmann, kritisiert zudem Pläne für ein Lieferkettengesetz. Das sei das "krasse Gegenteil" von Entlastungen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) pocht aber auf eine stärkere Haftung der Unternehmen für ihre Zulieferer.

KEINE REZESSION - ABER AUCH KEIN SCHWUNG


Nach Jahren des Booms dürfte die deutsche Wirtschaft 2019 nur noch um 0,5 Prozent gewachsen sein. "Wir sind mit einem blauen Auge davon gekommen", sagt Bingmann mit Blick auf die Brexit-Unsicherheit und den internationalen Handelsstreit. 2020 werde ähnlich verlaufen. Auch Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer rechnet nicht mit einer Rezession, eher mit einem gedämpften Wachstum. Positiv: "Die Zahl der Arbeitslosen wird vermutlich auch im nächsten Jahr weiter sinken." Aber die Auftragseinbußen vieler Konzerne seien ebenso wie die zunehmende Kurzarbeit als Vorboten einer schlechteren Entwicklung ernst zu nehmen.

BDI-Präsident Kempf verweist darauf, dass die Industrie weiterhin im Abschwung ist. "Eine Bodenbildung ist noch nicht in Sicht. Zudem stagnieren die Exporte." Allerdings gibt es nächstes Jahr vier Arbeitstage mehr, was für einen Großteil des Wachstums sorgen sollte, ergänzt DIHK-Präsident Schweitzer.

Weil der Konsum zuletzt die Stütze der deutschen Konjunktur war, sind Vertreter aus dem Einzelhandel und Handwerk deutlich optimistischer gestimmt. "Steigende Einkommen sorgen für eine robuste Verbraucherstimmung", erläutert der Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelverbandes HDE, Stefan Genth. Die Voraussetzungen für 2020 seien entsprechend recht günstig. ZDH-Generalsekretär Schwannecke erwartet 2020 ein Umsatzplus von drei Prozent im Handwerk, was aber unter dem Niveau von 2019 liegen würde. "Bauchschmerzen bereitet uns die aktuelle Schwächephase der Industrie, die viele der handwerklichen Zulieferer und Vorleistungsgüterproduzenten bereits spüren. Gelingt hier in den nächsten Monaten keine Trendwende, ist zu befürchten, dass auch die Binnenkonjunktur ins Stocken gerät."

FACHKRÄFTE HÄNDERINGEND GESUCHT


Im Handwerk werden laut Schwannecke Fachkräfte händeringend und oft erfolglos gesucht. "Die Betriebe arbeiten an ihren Kapazitätsgrenzen und müssen zusätzliche Aufträge zum Teil absagen, weil das Personal fehlt. Dieser Fachkräftemangel bremst bereits erheblich das Wachstum im Handwerk." In anderen Branchen sieht es nicht besser aus. Beispiel IT-Branche: Hier habe sich das Problem trotz zuletzt mauer Konjunktur verschärft, erläutert Bitkom-Präsident Achim Berg. "Die Zahl unbesetzter IT-Stellen ist innerhalb eines Jahres um 51 Prozent auf 124.000 gestiegen. Tendenz: weiter steigend. Quer durch alle Branchen und auch in der öffentlichen Verwaltung werden IT-Experten gesucht."

Der Schlüssel für mehr Fachkräfte liege in der Bildung, so Arbeitgeber-Präsident Kramer. Er fordert eine "massive Bildungsoffensive in Kitas, Schulen und Berufsschulen". Das sei das Fundament für die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Unternehmen. Das Handwerk fordert zudem das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz mittelstandsfreundlich umzusetzen. Visaverfahren müssten schneller und auch Anträge zur Anerkennung ausländischer Berufabschlüsse rascher bearbeitet werden.

US-WAHL RÜCKT LANGSAM IN DEN FOKUS


Bei den bisherigen Bremsklötzen Brexit und Handelsstreit hofft die deutsche Wirtschaft auf Entspannung. "Es wäre viel gewonnen, wenn sich bei US-Präsident Donald Trump mit Blick auf den anstehenden Wahlkampf die Erkenntnis durchsetzt, dass er durch Ruhe in der Weltwirtschaft mehr gewinnen kann als durch permanente Drohungen und Konflikte", sagt BGA-Experte Bingmann. DIHK-Präsident Schweitzer ergänzt, der von Trump entfachte Handelsstreit mit China und der EU bedeute für exportorientierte Konzerne höhere Kosten und zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Lieferketten würden in vielen Fällen nicht mehr wie früher funktionieren. "Folglich halten sie sich mit Investitionen zurück."

Auch nach dem Brexit, der Ende Januar über die Bühne gehen dürfte, bleibt die Unsicherheit für viele Firmen. Denn dann müssen die EU und Großbritannien in nur elf Monaten ihre künftigen Beziehungen klären inklusive Freihandelsabkommen. Ein harter Brexit mit schweren Folgen für die Wirtschaft ist daher immer noch nicht vom Tisch.