Standen zu Beginn der Covid-19-Pandemie noch Zahlungen für den Ausfall von Großveranstaltungen oder geschlossene Fabriken im Vordergrund, machte sich bei Versicherern und Rückversicherern im zweiten Jahr der Krise ein Anstieg der Sterbefälle bemerkbar - vor allem in den USA, in Südafrika und Indien. Die Pandemie wirft viele Annahmen über den Haufen, mit denen die Konzerne bisher ihre Prämien berechnet haben. "Wir haben definitiv mehr ausgezahlt als ich zu Jahresbeginn angenommen hatte", räumt Hannover-Rück-Vorstandsmitglied Klaus Miller ein.

Nach neun Monaten standen in der Leben-Sparte des weltweit drittgrößten Rückversicherers Corona-Rückstellungen von 404 Millionen Euro zu Buche - 2020 waren es nur 160 Millionen Euro gewesen. Weltmarktführer Münchener Rück hat die Schätzung für seine Corona-Schäden in der Lebensversicherung für 2021 auf 600 von 400 Millionen Euro nach oben geschraubt. Branchenweit kostete die höhere Sterblichkeit infolge der Corona-Pandemie die Lebensversicherer bis Ende September 5,5 Milliarden Dollar, zwei Milliarden mehr als im ganzen Jahr 2020, wie aus Berechungen des Versicherungsmaklers Howden hervorgeht. Dabei hatte die Branche dank der Impfstoffe in diesem Jahr mit einem Rückgang gerechnet.

Doch weil die Delta-Variante des Virus verstärkt jüngere Ungeimpfte traf, stiegen die Versicherungsfälle. Bei den Alten, die in der ersten Welle getroffen wurden, waren die Policen oft längst ausgezahlt. Beim niederländischen Versicherer Aegon, der zwei Drittel seines Geschäfts in den USA macht, verdreifachten sich die entsprechenden Schäden in der Region Amerika im dritten Quartal. Versicherungsmathematiker (Aktuare) gehen davon aus, dass die Branche für Pandemien künftig mehr Kapital reservieren muss.

BLICK IN DIE KRISTALLKUGEL


Doch die Omikron-Variante, die zwar ansteckender, aber weniger tödlich zu sein scheint, macht den Blick in die Kristallkugel noch schwieriger, mit welchen Risiken die Branche kalkulieren muss. Narges Dorratoltaj von der auf Risikomodelle für die Versicherer spezialisierten Firma AIR rechnet nicht nur mit mehr oder weniger übertragbaren Varianten herum. Er versucht auch die Frage zu beantworten, ob Regierungen weltweit in Zukunft bereit sind, Lockdowns zu verhängen, um die Ansteckungen im Zaum zu halten - und ob die Bürger noch bereit sind, sich an Beschränkungen zu halten. Der Rückversicherer Swiss Re berücksichtigt in seinen ständig aktualisierten Risikomodellen nach eigenen Angaben 20.000 Szenarien.

Die Risiko-Modellierer von AIR rechnen damit, dass Covid-19 die Welt insgesamt fünf Jahre beschäftigen wird. Das passt zu den Aussagen von Impfstoff-Entwickler und BioNTech-Partner Pfizer, der davon ausgeht, dass das Virus nicht vor 2024 endemisch wird. So lange könnte Covid-19 noch für Übersterblichkeit sorgen - wie es das Grippevirus bei heftigeren Ausbrüchen jeden Winter tut.

Risikoexperten aus der Versicherungsbranche gehen davon aus, dass Pandemien häufiger werden: wegen der wachsenden Mobilität, der Verstädterung, aber auch wegen Moskito-Plagen im Klimawandel. "Ein neuer Coronavirus-Ausbruch ist in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich", sagt Brice Jabo vom Risikomodellierer RMS. Er verweist auf SARS und MERS, die die Welt in den vergangenen 20 Jahren heimgesucht hätten.

Chef-Wissenschaftler Bruno Latourrette vom französischen Versicherer SCOR glaubt aber nicht, dass die nächste Pandemie so schlimm werden wird wie Covid-19. "Schlimmer als bei Covid geht es nicht: Mit Ansteckungsgefahr, bevor der Infizierte selbst Symptome spürt, einer Sterblichkeit, die nicht zu hoch ist, um drastische Gegenmaßnahmen auszulösen, einer schwindenden Immunität und einer hohen Übertragbarkeit."

rtr