Die Erholung an den Börsen setzt sich fort. Von den Tiefstständen der Verkaufspanik im März sind die Kurse inzwischen weit entfernt. Positiv gewertet wurde, dass die Arbeitslosenquote in den USA im Mai gesunken ist. Statt des erwarteten Abbaus von acht Millionen Arbeitsplätzen außerhalb der Landwirtschaft wurden 2,5 Millionen Jobs geschafen. Die Lockerungsmaßnahmen scheinen bereits zu einer teilweisen Rückholung entlassener Arbeitskräfte geführt zu haben. Die US-Notenbank Fed dürfte daher wohl keine weitere Leitzinssenkung beschließen - die Sitzung fndet parallel zum Erscheinen dieser Ausgabe von BÖRSE ONLINE statt.
Der stärkste Sektor der Börsenerholung ist jener, der auch schon vor der Panik die Kurslisten anführte: der Bereich Informationstechnologie, gefolgt von Aktien aus der Gesundheitsbranche. Viele Werte notieren hier in der Nähe ihrer bisherigen Allzeitbestmarken, manche gar schon darüber. Das sieht nicht nach einem Bärenmarkt aus.
Es gibt aber andere Sektoren, die durchaus in Bärenmarktterritorium stecken, zum Beispiel der Energie sektor, teilweise auch der Bereich der Immobilienunternehmen. Aber, und as ist sehr interessant, mittlerweile scheint sich auch in bisher schwachen Branchen langsam das Blatt zu wenden.
Schöpferische Zerstörung
Für den altgedienten Charttechniker und, wenn man so will, Börsenphilosophen Alfons Cortés war schon im vergangenen Jahr - und jetzt erneut - die Innovationskraft der Unternehmen in den besonders starken Sektoren IT und Gesundheit der Hauptfaktor für den Aufwärtstrend. Für ihn ist dies das "Narrativ der schöpferischen Zerstörung", das auf den österreichischen Volkswirtschaftler Joseph Alois Schumpeter zurückgeht. Dazu komme das "Zinsnarrativ", also die Story von der schier unglaublichen Menge an billigem Geld, das sowohl in die Märkte fießt als auch den Unternehmen genügend Mittel zur Verfügung stellt, um die Krise zu überstehen und um weiter zu expandieren.
"Dieses Doppelnarrativ hat das Potenzial, diejenigen als Anleger zurückzuholen, die aufgrund verschiedener fraglos vorhandener Spannungsfelder in Wirtschaft, Kreditwesen und Politik einen Melt-down an den Aktienmärkten erwartet haben", so Cortés. Jetzt aber könne das Gegenteil der Fall sein: ein Melt-up, also ein langer, fulminanter Anstieg.
Ein Argument für dieses positive Szenario ist, dass viele Anleger und Investoren auf einer Menge Cash sitzen, weil sie bisher davon ausgegangen sind, dass ein Test der Tiefstmarken vom März unausweichlich sei. Dazu kommt, dass - im Börsenjargon formuliert - die Rally die Rally nährt. Oder anders ausgedrückt: Aktienmärkte weisen bei steigenden Preisen nicht nur zunehmende Nachfrage, sondern auch schrumpfendes Angebot auf. Das treibt die Kurse noch mehr. Dazu passt auch, dass der Anstieg zuletzt an Breite gewonnen hat. Bislang relativ schwache Sektoren holen auf: Industriewerte, Konsumwerte, Versorger beispielsweise.
Mutige Erwartungen
Wie geht es also weiter? Aktienmärkte versuchen, konjunkturelle Entwicklungen vorwegzunehmen. Aktuell geht man von einer Erholung aus, und die Anleger sind mutig. Nach einiger Zeit kühlt sich dieser Mut ab, und man wartet Meldungen ab, welche die eingepreisten Erwartungen bestätigen. Falls diese eintrefen, werden die Anleger noch mutiger. Werden die Erwartungen nicht erfüllt, korrigieren die Aktienkurse. Es bleibt spannend.
Martin Blümel ist leitender Redakteur bei BÖRSE ONLINE und Autor des Börsenblogs www.bluemelstaunt.com