Es gilt immer noch: Die Börsen steigen, obwohl die Nachrichten rund um die Pandemie gerade in den USA, der Wirtschaftsnation Nummer 1, alles andere als positiv sind. Dies lässt eine durchaus überraschende Schlussfolgerung zu: Vielleicht zum ersten Mal überhaupt in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte rücken die USA in Sachen Konjunktur-Vorreiterrolle in die zweite Reihe. Diese Funktion haben die beiden anderen wichtigen Wirtschaftsregionen der Welt, Europa und Fernost, in den zurückliegenden Wochen übernommen. Mit solider Gesundheitspolitik und gut durchdachten Strategien bei der graduellen Öffnung der Volkswirtschaften.

Genau diese verkehrten Welten spiegeln die Aktienmärkte derzeit wider: Europas Indizes und die Märkte in Asien schneiden besser ab als die breiten amerikanischen Indizes - sieht man einmal von den notorisch gefragten FANG-Aktien und anderen Werten des Nasdaq 100 ab.

Die Wall Street macht Pause als klassische Weltleitbörse. So scheint es zumindest, vor allem wenn man nach China blickt. Dort gibt es gerade einen Börsenhype, wie man ihn zuletzt 2014 und 2015 erlebt hat. Fünf Jahre nachdem Chinas bisher letzter großer Aktienboom in Tränen endete, sind die Anzeichen von neuer Euphorie unter den investierenden Massen des Landes nicht mehr zu übersehen. Die Umsätze an den Börsen Shanghai und Shenzhen haben sich vervielfacht, die Zahl der Wertpapierkredite wächst so schnell wie seit 2015 nicht mehr, und die Online-Handelsplattformen haben Schwierigkeiten, beim Eröffnen neuer Depots Schritt zu halten.

Halsbrecherische Gewinne in China


Das Interessante an China ist, dass anders als in den meisten anderen großen Märkten die Privatanleger des Landes den Löwenanteil des Aktienhandels ausmachen. Extreme Stimmungsschwankungen wie 2007 oder 2015 haben entsprechend große Auswirkungen und können sich - positiv wie negativ - auf die Wirtschaft und die Geldpolitik auswirken. Aktuell sieht es noch nicht nach einem total überhitzten Markt aus. Dennoch ist das Risiko durch die teils halsbrecherischen Gewinne der zurückliegenden Tage, die auch durch euphorische Artikel in staatlichen Medien (!) ausgelöst wurden, gestiegen.

Als Anleger bleibt man da etwas irritiert zurück. Auffällig ist eben nur, dass sich die Märkte weltweit, die Branchen und Sektoren, Bluechips und Small Caps, Growth- respektive Value-Aktien derzeit sehr unterschiedlich entwickeln. Im Börsianerjargon ist dann von "Narrow Leadership" die Rede: Angeführt werden die Notierungen von einer Handvoll Nasdaq- Aktien und besagtem Ansturm der chinesischen Anleger in Shanghai und Shenzhen, die getrieben sind von der Furcht, etwas zu verpassen.

Anleger in der Bredouille


Orientiert man sich an den zehn Investment-Regeln des legendären Börsenveteranen Bob Farrell, ist man angesichts der Verhältnisse in der Bredouille. Gilt Regel 4, oder gilt Regel 7? Erstere besagt, dass exponentiell steigende oder fallende Märkte normalerweise weiter laufen, als man annimmt. Regel 7 besagt, dass Märkte dann am stärksten sind, wenn der Anstieg breit ausfällt, und am schwächsten, wenn sich die Rally auf nur wenige Bluechips beschränkt. Nach Regel 4 könnte sich also aktuell eine Blase bilden, die noch deutlich höhere Kurse ermöglicht. Jedoch nach Regel 7 bei erheblichem Risiko. In diesem Umfeld lohnt es, Anlageziele und Risikotoleranzen zu überdenken. Das Jahr 2020 liefert eben keine perfekten Antworten.

Martin Blümel ist leitender Redakteur bei BÖRSE ONLINE und Autor des Börsenblogs www.bluemelstaunt.com