Es tut sich ein Graben auf zwischen Europa und den USA. Zumindest was die wirtschaftliche Entwicklung angeht. Wegen erneuter partieller oder gar kompletter Shutdowns etwa in Österreich, Deutschland oder den Niederlanden steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Nullwachstum im Schlussquartal 2021 kommt - und vermutlich auch zu einem relativ schwachen ersten Quartal im kommenden Jahr. In den USA hingegen wird die Wirtschaft im vierten Quartal erneut stärker zulegen als im Vorquartal.
Ein weiterer Graben, wenn auch ein weit gravierenderer, tut sich zwischen den großen Wirtschaftsmächten und der Türkei auf. Dort rutscht die Landeswährung Lira immer weiter ab, nachdem die Zentralbank des Landes trotz der hohen Inflationsraten erneut die Zinsen gesenkt hat. Gegenüber dem Jahresanfang hat die Lira somit ein Drittel an Wert verloren. Was sich auch auf die Beliebtheit des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan niederschlägt: Die nimmt drastisch ab, wirkt sich doch die Währungskrise dramatisch auf die Geldbeutel der Bevölkerung aus. Auch an den Märkten wird die Entwicklung am Bosporus aufmerksam verfolgt. Wie weit geht die Krise noch? Riskiert man in Ankara einen Zahlungsausfall?
Mehr Jobs, mehr Lohn
Dass es jenseits des großen Teichs in den USA besser läuft als in Europa, liegt auch daran, dass man weniger exportabhängig ist. "Der wichtigste Baustein für die US-Konjunktur ist der private Konsum, der von nachgebenden Arbeitslosenzahlen gestützt wird", heißt es dazu in einer Studie der Privatbank Donner & Reuschel. So stiegen die Einzelhandelsumsätze allein im Oktober um 1,7 Prozent. Auch weil eben die Arbeitslosenquote zuletzt auf 4,6 Prozent gesunken ist und 604 000 Stellen außerhalb der Landwirtschaft neu geschaffen wurden. Bemerkenswert ist zudem, dass zwar die Zahl der Kündigungen durch Arbeitnehmer zugenommen hat, diese aber durch den Jobwechsel oft höhere Löhne erzielen.
Ein Problem ist allerdings auch in den USA die Inflationsentwicklung. Der zunehmende Lohndruck bewirkt zusammen mit deutlich steigenden Preisen für viele Vorleistungen, Rohstoffe, Transportkapazitäten und Energie einen anhaltenden Anstieg der Produzentenpreise. Was wiederum auf die Verbraucherpreise durchschlägt. Dadurch entsteht die Gefahr einer sich selbst antreibenden Preisspirale. Dann wiederum wären über den Verlust an Kaufkraft negative Auswirkungen auf den Konsum wahrscheinlich.
Um dem entgegenzuwirken, müsste die Notenbank schnelle und drastische Zinserhöhungen beschließen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist zuletzt gestiegen. Zumindest ist es gut möglich, dass die Fed die Reduktion der Wertpapierkäufe, das Tapering, schon im Dezember beschleunigt und bereits im zweiten Quartal 2022 eine erste Leitzinserhöhung vornimmt.
Weniger vom selben
An den Börsen ist man dennoch weiter guter Dinge. Die Jahresendrally läuft, sieht man von kleineren Rücksetzern ab. "Der Ausblick ist weiterhin gut", kommentiert Luca Paolini, Chefstratege bei der Fondsgesellschaft Pictet. Allerdings soll es 2022 nicht mehr ganz so gut laufen. Die Gründe sind bekannt: hohe Bewertungen und eine wohl straffere Geld- und Fiskalpolitik. Man solle daher nur noch mit "Aktienrenditen im einstelligen Bereich" rechnen. Das nächste Jahr werde "weniger vom selben" bringen, so Paolini. "Wir befinden uns im letzten Drittel des Aufschwungs im rasantesten Markt- und Konjunkturzyklus aller Zeiten."
Martin Blümel ist leitender Redakteur bei BÖRSE ONLINE und Autor des Börsenblogs www.bluemelstaunt.com