Mit der Schlappe der britischen Premierministerin Theresa May bei den von ihr angesetzten Unterhauswahl ist jedenfalls der Weg bereitet für einen weiteren Akt im Spiel der Konservativen, ihr Land aus der Europäischen Union zu führen. Obwohl eine neue Regierung noch nicht steht, zeichnet sich schon jetzt Chaos bei den anstehenden Scheidungsgesprächen mit der EU ab. "Klar ist nur, dass es Stabilität und Stärke nicht geben wird", sagte etwa der Chef der europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer, mit Blick auf Mays Hauptbotschaft der "Stabilität und Stärke" im Wahlkampf. Welche Szenarien gibt es aber für den Ausgang des Dramas, das sich mittlerweile schon seit fast einem Jahr hinzieht?

DIE GESPRÄCHE - WANN FÄLLT DER STARTSCHUSS?



Für Bert Van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik (Cep) ist zumindest klar, dass die Brexit-Verhandlungen nicht wie geplant am 19. Juni beginnen könnten, da Großbritannien zunächst mit sich selbst beschäftigt sei. Der Chef der britischen Liberaldemokraten, Tim Farron, plädierte derweil für eine Verschiebung der Gespräche. Diese Idee stieß in den öffentlichen Äußerungen von EU-Spitzenpolitikern indes auf wenig Gegenliebe. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sagte, man warte händeringend auf den Beginn der Verhandlungen. Auch May, die trotz der Verluste bei der Wahl an ihrem Amt festhielt, nannte den 19. Juni am Freitag als Termin.

Unabhängig vom Zeitpunkt sieht Van Roosebeke die Verhandlungsposition der britischen Seite mit dem Wahlausgang geschwächt. Doch auch für die EU sei es kein gutes Zeichen, wenn der Verhandlungspartner kein klares Mandat mehr habe. Eine Hängepartie sei zudem für die deutsche Wirtschaft nicht gut, warnte der Cep-Experte.

EU-Chefunterhändler Michel Barnier wollte eigentlich bis Ende diesen Jahres erste Ergebnisse in den Gesprächen erzielt haben, nämlich bei der Frage der Rechte von britischen und EU-Bürgern im jeweils anderen Hoheitsgebiet, den finanziellen Verpflichtungen des Königreichs gegenüber der EU und dem Umgang mit der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Bis Herbst kommenden Jahres soll dann das gesamte Austrittsabkommen stehen, das anschließend von allen 28 Mitgliedsländern, den nationalen Parlamenten und dem EU-Parlament abgesegnet werden muss, um den Brexit bis Ende März 2019 vollziehen zu können. Ob dieser Zeitplan zu halten ist, steht nach dem britischen Wahlausgang mehr denn je in den Sternen.

BREXIT - HART ODER WEICH?



Die deutsche Industrie sieht zumindest den harten Brexit-Kurs Mays, der auch ein Scheitern der Verhandlungen als Option ins Auge fasst, als abgewählt. "Ein Scheitern der Brexit-Gespräche wäre das schlechteste Szenario", warnte zugleich BDI-Präsident Dieter Kempf. Auch am Finanzplatz London dürfte dann Chaos ausbrechen, da die dortigen Banken ab April 2019 den Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren würden, ohne dass es eine Regelung für die Zukunft gäbe. Sollte May eine Regierungsbildung gelingen, wird sie zudem mehr denn je von den einzelnen Flügeln in ihrer Koalition abhängig sein. Die wahrscheinlich geringe Mehrheit gebe auch kleinen Gruppen konservativer Abgeordneter die Möglichkeit, Gesetze im Parlament zu blockieren, warnten deshalb die Analysten von JPMorgan. Ihre Kollegen von Citi halten nun sowohl einen chaotischen Brexit ohne Vereinbarung mit der EU als auch einen sanften Austritt mit weiterem Zugang zum Binnenmarkt für wahrscheinlicher.

EXIT VOM BREXIT?



Auch Labour-Chef Jeremy Corbyn, der den Versuch einer Regierungsbildung andeutete, stellte den EU-Austritt an sich im Wahlkampf nicht infrage. Ein "Exit vom Brexit", also ein Verbleib Großbritanniens in der EU, dürfte deshalb kurzfristig nicht realistisch sein. An den Finanzmärkten wurde aber bereits darauf spekuliert. Ähnlich sah das - allerdings eher grollend als hoffnungsfroh - Nigel Farage, früherer Chef der rechtspopulistischen Partei Ukip und glühender Brexit-Verfechter: Er fürchte, dass Corbyn eine Regierung mit den schottischen Nationalisten und den Liberaldemokraten forme und Großbritannien innerhalb weniger Jahre einem neuen Referendum über den EU-Austritt entgegen sehe. Farron sprach sich denn auch für eine zweite Volksbefragung aus.

Auffällig war am Freitag, dass sich die EU-Spitzenpolitiker mit Äußerungen zu dieser Option zurückhielten. Denn für die EU käme eine 180-Grad-Wende in London womöglich zu früh: Das Brexit-Lager bei den Konservativen ist durch die Wahl ebenso wenig verschwunden wie das Ergebnis des Referendums vor einem Jahr. Und sollten die Briten mit derart instabilen Regierungsverhältnissen zurück in die EU streben, könnte das Chaos von der Insel dann womöglich auf den Kontinent schwappen. Die Briten würden sich an wichtigen, zukunftsweisenden Entscheidungen zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion oder der stärkeren Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen beteiligen wollen und könnten wie in der Vergangenheit auf die Bremse treten. Für die Regierungen in Paris und Berlin, die spätestens nach der Bundestagswahl im September den Motor für mehr EU-Integration anwerfen wollen, wäre neues Störfeuer aus London dann genau das, was man nicht mehr wollte. Womöglich werden die Briten aber auch während des Verhandlungsprozesses eine Kehrtwende vollziehen, wenn sie feststellen, dass ihnen der Brexit mehr Nachteile als Vorteile bringt. Ob diese Wende dann der letzte Akt im Brexit-Drama wäre, bleibt abzuwarten.

rtr