"Ich erwarte, dass in der CDU in den nächsten vier Jahren eine Debatte über die Nachfolge von Angela Merkel eröffnet wird", sagte der Liberale dem "stern".
Unions-Granden winken zwar genervt ab. Aber der FDP-Chef weiß genau, dass er eine Debatte schürt, die auch in der Union nach dem schlechten Ergebnis der CDU bei der Bundestagswahl wabert. Auf dem Deutschland-Tag der Jungen Union hatte ein nordrhein-westfälischer Delegierter Merkel offen zum Rücktritt aufgefordert. Wiederholt pochen vor allem jüngere CDU-Vertreter wie JU-Chef Paul Ziemiak oder Präsidiumsmitglied Jens Spahn auf "frische Gesichter" in Regierung, Fraktion und Partei. Unmut gibt es vor allem über Merkels Satz direkt nach der Wahl: "Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten."
Und der Rücktritt des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich diese Woche nach dem Einbruch der CDU in Sachsen fördert die Personaldebatte weiter. Vor allem in konservativen Medien, die ohnehin seit 2015 mit Merkels Flüchtlingspolitik hadern, ist von einer "Kanzlerindämmerung" die Rede. Inhaltlich ausgelaugt, polarisierend statt einend - lautet das negative Urteil.
UNIONS-ANHÄNGER STEHEN IMMER NOCH HINTER MERKEL
Forsa-Chef Manfred Güllner hält die Debatte für verfrüht. Die Nachfolge-Frage stellte sich bereits nach der Bundestagswahl 2013, weil damals niemand erwartet hatte, dass Merkel 2017 ein viertes Mal antreten würde. "Zudem ist Merkels Lage auch jetzt überhaupt nicht mit der von Helmut Kohl in den Endjahren seiner Kanzlerschaft zu vergleichen", sagt Güllner. Umfragen zeigten auch nach der Bundestagswahl sehr hohe Zustimmungswerte der Unions-Anhänger für Merkel - in der CDU sogar von 84 Prozent. In der klaren Minderheit seien dagegen die Funktionäre und Politiker, die Kritik an Merkel äußerten. "Außerdem verordnet Merkel der Union die absolut richtige Strategie - nämlich die Öffnung zur Mitte", glaubt Güllner.
Innerparteiliche Kritiker räumen zumindest ein, dass es für Merkel derzeit keine personelle Alternative gebe. Spahn und Ziemiak loben sie öffentlich als Fels in der internationalen Brandung. Die CDU-Chefin dürfe in der Phase der Sondierungen für Jamaika ohnehin nicht geschwächt werden, wird zudem in der Parteispitze gemahnt.
Dazu kommt, dass der Richtungsstreit in der CDU nicht entschieden ist. "Die meisten Wähler hat die Union doch gar nicht an die AfD, sondern an den Friedhof verloren", sagt Güllner mit Blick auf die verstorbenen, oft ältere CDU-Anhänger. Die CDU müsse sich also verstärkt um jüngere Wähler kümmern, die aber eher "links" statt "rechts" seien. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen verlor die CDU vergangenen Sonntag laut Infratest dimap mehr Stimmen an die SPD als an die AfD. Nicht nur Merkel lehnt einen Rechtsruck auch deshalb ab.
NEUERFINDUNG EINER KANZLERIN?
Dennoch müsse sich die Kanzlerin zum Teil neu erfinden, weil die Konstellation in einer Jamaika-Koalition eine völlig neue sei, heißt es in der Union. Allerdings ist auch diese Wandlung nicht ganz neu. 2005 wurde aus der Oppositionsführerin mit radikalen Ideen für Wirtschafts- und Sozialpolitik eine Kanzlerin, der in der großen Koalition mit der SPD eine "Sozialdemokratisierung" ihrer Partei vorgeworfen wurde. Es gab inhaltliche Kehrtwenden wie etwa 2011 in der Atompolitik.
Jetzt ist wieder ein anderes Profil gefragt: Denn mit der angestrebten Koalition mit FDP und Grünen rückt die Union in die Rolle, verstärkt Ansprechpartner für "den kleinen Mann und die kleine Frau" zu sein - mit entsprechenden Sozialprogrammen. Auf diesen "Sozial-Ruck" dringt ausgerechnet auch die CSU, die in der Innenpolitik indes den Rechts-Ruck fordert. Merkel diente sich zuletzt angesichts des Wechsels der SPD in die Opposition auch als Hauptansprechpartnerin der Gewerkschaften an. Um den innerparteilichen Druck zu lockern, hat sie zudem dem Partei-Nachwuchs eine personelle Erneuerung des Kabinetts versprochen.
Dass Merkel auch ihren Regierungsstil nach zwölf Jahren Kanzlerschaft ändern wird, wird allgemein bezweifelt. CDU-Vertreter, aber auch Forsa-Chef Güllner sehen in der Bildung einer Jamaika-Koalition aber eine neue Chance für Merkel. Wegen der großen Unterschiede zwischen Grünen, FDP und CSU werde ihr vermittelnder, eher präsidialer Regierungsstil noch mehr gebraucht, sagte ein CDU-Bundesvorstandsmitglied. Jamaika könnte ihr somit sogar eine politische Überlebensgarantie verschaffen - und die erste Frau im Regierungsamt endgültig in die Geschichtsbücher bringen, weil sie dann mit drei verschiedenen Parteienbündnissen regiert und die Union vollends in die politische Mitte gerückt hätte.
Nur für den Fall, dass die Jamaika-Koalition doch nicht zustande und eine Neuwahl kommen sollte, gilt es derzeit überhaupt als vorstellbar, dass Merkel abtreten könnte. In den ersten Sondierungsgesprächen jedenfalls, so berichten Teilnehmer, sei die Kanzlerin souverän aufgetreten - auch gegenüber FDP-Chef Lindner. "Alle, die schon von einer Vorsitzenden-Dämmerung gesprochen hatten, mussten erleben, dass diese Dämmerung bis auf Weiteres abgesagt ist", sagte Saarlands Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die als Vertraute der Kanzlerin gilt, schon im Dezember 2015 - auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise und dem bis dahin schärfsten Streit über Merkels Kanzlerschaft.