Herr Klude, nach dem Brexit-Votum der Briten vor gut zwei Wochen ging’s an den Börsen erst mal richtig runter. Dann gab’s eine kleine Erholung und jetzt haben Investoren erneut den Rückwärtsgang eingelegt. Kommt jetzt der endgültige Sell-off?
Carsten Klude: Die Märkte haben auf diese Nachrichten reagiert, wie es schon häufig in der Vergangenheit zu beobachten war: Erst der Schock ("Um Gottes Willen, was ist passiert?"), dann die Negierung ("Alles nicht so schlimm") und schließlich die langsame Erkenntnis ("Die Welt sieht anders aus"). Nachdem der DAX am Freitagmorgen nach der Brexit-Entscheidung zunächst um 1.000 Punkte einbrach, setzte in der Folgewoche eine ordentliche Erholung ein, so dass ein Großteil der Verluste wieder aufgeholt wurde. In dieser Woche kam es dann wieder zu Verlusten. Ein ähnliches Verhaltensmuster war beispielsweise auch nach der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 zu beobachten: Kursverluste am Tag der Nachricht, Erholung in den Folgetagen, gefolgt von einem Einbruch. Natürlich sind Lehman und Brexit nicht direkt miteinander vergleichbar, weil ihre ökonomischen Auswirkungen andere sind, dennoch zeigen diese Beispiele, wie Anleger unter Stress und Unsicherheit häufig reagieren.
Also wird Investoren erst jetzt das ganze Ausmaß der möglichen Auswirkungen klar?
Unsicherheit ist das entscheidende Stichwort, denn derzeit weiß niemand ganz genau, welche Auswirkungen der Brexit wirklich haben wird. Von daher halten wir Weltuntergangsszenarien für völlig verfehlt. Allerdings können wir uns aus verschiedenen Gründen auch nicht einer Meinung des "weiter so" anschließen, denn unter ökonomischen Gesichtspunkten halten wir die Wahrscheinlichkeit für groß, dass die Entscheidung der Briten negative Auswirkungen haben wird.
Wie in unserem Flash Report "Brexit: Was nun?" in der vergangenen Woche erläutert, könnten vor allem die Investitionen, aber auch - allerdings in geringerem Ausmaß - der Konsum unter der politischen Unsicherheit leiden, während die starke Abwertung des Britischen Pfund den Exporten zunächst Rückenwind verschafft. Noch lassen sich aus den Stimmungsindikatoren keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Auswirkungen des Brexit-Votums ziehen, da fast alle Umfragen vor dem 23. Juni abgeschlossen wurden. Von daher werden Volkswirte und Marktteilnehmer in der nächsten Zeit mit Argusaugen auf alle Daten achten, die aus Großbritannien kommen.
Was heißt das für Anleger?
Aufgrund der derzeitigen Unsicherheiten und der Annahme, dass man in den kommenden Wochen mit den ersten negativen realwirtschaftlichen Auswirkungen des Brexits konfrontiert wird, raten wir derzeit zu einer vorsichtigeren Anlagestrategie.
Uns ist dabei bewusst, dass es vielleicht auch noch eine längere Zeit dauern kann, bis tatsächlich klarer abzuschätzen sein wird, wie sich der Brexit auswirkt. Politische Unsicherheiten hinterlassen nämlich häufig erst mit größerem zeitlichen Verzug ihre Spuren in der Realwirtschaft. Da in den kommenden Wochen aufgrund der beginnenden Ferienzeit die Liquidität an den Kapitalmärkten sinken wird, können bereits kleinere Handelsaktivitäten zu größeren Kursveränderungen führen - so wie es beispielsweise auch im letzten Jahr der Fall war, als China im August begann, seine Währung abzuwerten. Da wir eher mit einer negativen Nachrichtenlage rechnen, können wir uns vorstellen, dass wir die Tiefstkurse am Aktienmarkt noch nicht erreicht haben.
Auf Seite 2: Wie tief es im Dax noch gehen kann
Wie tief kann es jetzt im Dax denn noch gehen?
Für den DAX halten wir einen Test des bisherigen Jahrestiefs von 8.700 Punkten für wahrscheinlich. Sollte diese Marke nicht halten, ist ein Rutsch auf bis zu 8.000 Punkte möglich.
Wo erwarten Sie den Dax zum Jahresende?
Den DAX erwarten wir am Jahresende nun bei 10.350 Punkten (bislang 10.850), den Euro Stoxx 50 bei 3.050 (bislang: 3.350) und den S&P 500 bei 2.050 Punkten (bislang: 2.150). Wir haben die Prognosen insbesondere deswegen angepasst, weil wir befürchten, dass die Gewinnerwartungen der Unternehmensanalysten für das Jahr 2017 zu optimistisch sind. Für die DAX-Unternehmen sollen die Gewinne um 10 Prozent, für die Unternehmen im Euro Stoxx 50 sogar um 13 Prozent und für die Firmen im S&P 500 um 14 Prozent ansteigen.
Dies würde bedeuten, dass die Gewinne so stark zulegen, wie es zuletzt 2010 der Fall gewesen ist. Dabei sollen die stärksten Zuwächse im DAX von den Banken und den besonders zyklischen, also konjunkturabhängigen Unternehmen kommen. Diese Annahme halten wir aber unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht für besonders realistisch.
Zumal sich die Konjunktur eintrübt. Das Münchner ifo-Institut hat seine Prognose für das Wirtschaftswachstum in Deutschland für 2016 und 2017 gerade leicht nach unten korrigiert. Wie groß ist die Ansteckungsgefahr des Brexit?
Für die deutsche Wirtschaft droht eine Ansteckung in erster Linie über rückläufige Exporte auf die Insel. Ein Rückgang der Ausfuhren um 10 Prozent würde das deutsche BIP-Wachstum um 0,3 Prozentpunkte reduzieren, ein Rückgang wie 2009 um 17 Prozent würde zu einem um 0,5 Prozentpunkte geringeren Wirtschaftswachstum führen. Da unsere Prognosen für dieses und nächstes Jahr ohnehin auf der vorsichtigen Seite angesiedelt sind (Deutschland: 1,5 Prozent in 2016 und 1,2 Prozent in 2017, Eurozone: 1,5% in 2016 und 1,1% in 2017) lassen wir diese Prognosen zunächst unverändert.
Auf Seite 3: Wie groß ist das Risiko der angeschlagenen italienischen Banken für die Stabilität im Euro-Raum?
Neben dem Brexit und den Konjunktursorgen drückt auch die Lage bei den italienischen Banken auf die Stimmung. Berichten zufolge sitzen die Kreditinstitute auf rund 360 Milliarden Euro fauler Kredite. Händler warnen, dass Italien ein größeres Risiko für die Stabilität der Euro-Zone sein könnte als der Brexit. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ein potenzieller Schwachpunkt und möglicher Übertragungsherd auf die Realwirtschaft ist der europäische Finanzsektor. Denn viele europäische Banken sind durch die immer massiveren Vorgaben der europäischen Bankenregulierung sowie die anhaltende Niedrigzinsphase enorm geschwächt. Höhere Kosten bei gleichzeitig geringeren (Zins-)Erträgen sind ein gefährlicher Cocktail für den gesamten Sektor.
Vor allem die italienischen Banken, die über ein erhebliches Maß an ausfall-gefährdeten Krediten verfügen, stehen bei den Anlegern im Fokus. Von den 48 Unternehmen im Stoxx 600 Europe Bankensektor stammen allein acht aus Italien. Drei Institute, Banca Popolare mit minus 80 Prozent, Banca Monte Dei Paschi mit minus 77 Prozent und Unicredit mit minus 64 Prozent weisen seit Jahresbeginn besonders verheerende Kursentwicklungen auf.
Zudem erhält die populistische 5-Sterne-Bewegung, die ein Referendum über die Euro-Zugehörigkeit anstrebt, immer mehr Zuspruch, sodass die politischen Unsicherheiten in Europa noch weiter zunehmen könnten.
Auf Seite 4: Wie tief kann das britische Pfund noch fallen?
Das britische Pfund fällt wegen der Brexit-Sorgen derzeit von einem Tief zum nächsten. Wo könnte sich die britische Währung wieder fangen?
Das Britische Pfund geriet nach dem Brexit-Votum so stark unter Druck, dass er zum US-Dollar das niedrigste Niveau in den vergangenen 30 Jahren erreichte. Sollte Großbritannien wirklich auf einen Einstieg in den Ausstieg zusteuern, könnte bis zum Jahresende eine nochmalige Abwertung gegenüber dem US-Dollar und dem Euro, der gegenüber dem US-Dollar relativ stabil bleiben sollte, von mindestens 10 Prozent erfolgen. Ökonomisch begründen lässt sich diese Erwartung mit dem sehr hohen Leistungsbilanzdefizit Großbritanniens.
Dies lag zuletzt bei fast 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bzw. 130 Milliarden Pfund, womit es unter den Industrieländern den höchsten Wert aufweist. Dieses wäre sogar noch größer, wenn London nicht bislang der größte und bedeutendste Finanzplatz der Welt wäre, was dazu führt, dass seit der Einführung des Euro jährlich ein ordentlicher Überschuss in der Dienstleistungsbilanz erwirtschaftet werden konnte. Fällt dieser zukünftig aber weg, weil London durch einen Brexit seinen bisherigen Status verliert, würde das Leistungsbilanzdefizit noch höher ausfallen.
In Großbritannien greift derzeit die Post-Brexit-Depression um sich. Es gibt Gewinnwarnungen, die Frühindikatoren drehen nach unten, Unternehmen drohen damit, ihren Sitz aufs europäische Festland zu verlegen. Was glauben Sie: Werden die Briten aus Angst vor einer tiefen Rezession am Ende doch noch die Notbremse ziehen und den Brexit abblasen?
Dies ist zwar nicht völlig auszuschließen, nachdem die britische Politik derzeit eher einer Seifenopfer denn alles anderem gleicht, aus heutiger Sicht jedoch sehr unwahrscheinlich.