Börsenweisheiten gibt es wie Sand am Meer. "The trend is your ­friend" ist eine davon. Das weniger freundliche Pendant dazu heißt: "Greife nie in ein fallendes Messer." Beide beschäftigen sich mit der Frage, ob man lieber eine Aktie kaufen soll, die gerade gefallen ist, oder lieber eine, die ein neues Hoch nach dem anderen erreicht. Obwohl jede Aktie unterschiedlich ist, gibt es doch eine generelle Tendenz, wonach Letzteres die bessere Strategie ist.

Denn es ist keine gute Idee, bei Aktien ein Einkaufsverhalten anzuwenden, wie man es aus dem Supermarkt kennt, und sich die Papiere ins Depot zu legen, die gerade im Preis gefallen sind. Auch nicht, wenn sie dann besonders günstig erscheinen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es statistisch gesehen mehr Sinn macht, darauf zu setzen, dass die Trends der vergangenen zwölf Monate anhalten, statt auf eine Umkehr zu wetten. Im Jargon der Börsianer spricht man bei Werten, die von einem Hoch zum nächsten eilen, von Aktien mit starkem Kursmomentum. Darauf aufbauend heißen Auswahlverfahren, die dem Gesetz der Stärke folgen, Momentum-Strategien.

Frappierende Unterschiede


Das Swiss Finance Institute hat im Jahr 2013 eine umfangreiche Studie zu diesem Thema veröffentlicht. Die Autoren Kent Daniel von der Columbia Business School in New York und Tobias J. Moskowitz von der University of Chicago haben darin ihre Untersuchungen zum amerikanischen Aktienmarkt über einen sehr langen Zeitraum dargestellt.

Sie haben ausgerechnet, was aus einem Dollar von 1947 bis 2006 geworden wäre, wenn man immer vom ersten bis zum letzten Handelstag eines Monats genau die zehn Prozent aller US-Aktien gehalten hätte, die in den zurückliegenden zwölf Monaten am stärksten gestiegen waren, das sogenannte Gewinner-Dezil: nahezu unglaubliche 53 829,84 Dollar!

Wer hingegen immer zum Monatswechsel auf die zehn Prozent der gerade am stärksten gefallenen Aktien gesetzt hätte, würde nach 60 Jahren Anlagedauer noch auf ein Vermögen von vier Cent blicken. Da spielt es fast keine Rolle, dass es mit einem Dollar unmöglich ist, eine solche Strategie abzubilden. Auch wer mit 10 000 Dollar anfängt und am Ende noch 400 davon übrig hat, wird seinen Erben keine Freudentränen entlocken.

Das Ergebnis bestätigt eine weitere Börsenweisheit: "Gewinner bleiben Gewinner, und Verlierer bleiben Verlierer." Die daraus abgeleitete Momentum-Strategie gleicht einem Karussell, das niemals anhält. Immer werden die Aktien gekauft, die gerade am stärksten sind. Sie fallen wieder heraus, sobald sie in einem der nächsten Monate von neuen, noch stärkeren überholt werden. Der Rotationsprozess geht immer weiter. Das Interessante an einer derartigen Strategie ist, dass sich quasi der Markt die Investments aussucht. Man weiß vorher nie, welche Aktien als Nächstes im Depot landen. Oft sind es Titel, auf die man von selbst wohl nicht gekommen wäre.

In der Praxis hat das von Daniel und Moskowitz beschriebene Vorgehen jedoch einige Schwächen. Die Erträge fallen keinesfalls Jahr für Jahr stetig und gleichmäßig an, sondern es gibt erhebliche Rückschlagsphasen - im Jahr 2000 beispielsweise satte 63 Prozent. Hätte die Studie den Zeitraum über 2006 hinaus untersucht, wäre es sogar noch dicker gekommen: Die Finanzkrise setzte 2008 mit 68 Prozent Rückgang noch einen drauf.

Hinzu kommt: Nach dem Einbruch zwischen 2000 und 2003 wurde erst 2007 wieder ein neues Hoch erreicht. Und schon kurz danach folgte 2008 der nächste brutale Absturz. Eine solche Durststrecke hält kaum ein Anleger durch. Und für die wenigsten dürfte die Strategie überhaupt nachbildbar sein. Denn das Top-Dezil, die obersten zehn Prozent aller in den USA gehandelten Aktien, kann kaum jemand auf einmal im Depot halten. Legt man "nur" den S & P-500-Index als Anlage­universum fest, sind es allein 50 Werte, beim Russell 1000 steigt die Zahl bereits auf 100.

Lösungen auf viele Probleme der Momentum-Strategie hat Fondsmanager Andreas Clenow 2015 in seinem Buch "Stocks on the Move" geliefert. Als sogenanntes Anlageuniversum betrachtet er die Aktien des S & P 500. Mit der Beschränkung auf die größten und liquidesten 500 Aktien des wichtigsten Marktes der Welt hält er die Kosten für seinen Trading­ansatz klein. Denn die Werte sollten möglichst liquide sein, damit die Kosten unter Kontrolle bleiben, sprich: die Spreads (Unterschied zwischen An- und Verkaufskurs) nicht den Großteil der Rendite aufzehren.

Bereits früher erschienene Bücher wie "Die besten Anlagestrategien aller Zeiten" von Charles Kirkpatrick und James P. O’Shaughnessy und auch reale Handelsergebnisse haben gezeigt, dass Momentum-­Strategien am besten mit großen Schiffen funktionieren, die nicht durch den kleinsten Windstoß vom Kurs abkommen.

200-Tage-Linie als Signalgeber


Ein zentrales Element bei Clenow ist ein Marktfilter, um größere Rückgänge in Bärenmarktphasen zu vermeiden. Clenow erlaubt keine neuen Marktpositionen, falls der S & P 500 sich unter der 200-Tage- Linie befindet.

Der Fondsmanager bestätigt damit Meb Fabers Ivy-Portfolio, das auf derselben Verlustbremse basiert. Einer der größten Spekulanten aller Zeiten, Jesse Livermore, hat in den 1930er-Jahren den Satz geprägt "Money is made by sitting, not trading." Was er damit meinte: Das Geld wird nicht durch pausenloses Handeln verdient, sondern der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, auch mal die Füße still zu halten, wenn der Markt in schlechter Verfassung ist.


Dieser Artikel erschien am 22.12.2020 auf TiAM FundResearch.de


Clenows Ansatz erreichte zwischen 1999 und 2014 trotz der beiden Jahrhundertcrashs in diesem Zeitraum eine durchschnittliche jährliche Performance von über zwölf Prozent. Die 200-Tage-Linie als Marktfilter sorgte 2000 und 2008 dafür, dass die maximalen Depotrückgänge mit rund 25 Prozent einigermaßen auszuhalten waren. Eine weitere wichtige Verbesserung gegenüber der Betrachtung des reinen Kursanstiegs: die lineare Regression. Diese mathematische Methode hat Perry Kaufman in seinem Buch "Trading Systems and Methods" Ende der 1990er- Jahre auf die Finanzmärkte übertragen. Demnach zählt nicht mehr nur, wie stark eine Aktie ansteigt, sondern es gibt quasi Bonuspunkte, wenn sich dies unter möglichst geringen Schwankungen und ohne Kurslücken (sogenannte "Gaps") von mehr als 15 Prozent vollzieht.

Clenow liefert auch eine genaue Anweisung, wie viele Positionen jeweils gekauft werden sollten und wann diese wieder verkauft werden müssen. Allerdings zielt sein System vor allem auf institutionelle Investoren ab, denn oft werden 30 bis 50 Positionen gleichzeitig gehalten. Zudem wird jede Woche umgeschichtet. Das ist für Privatanleger in der Praxis kaum vernünftig umsetzbar.

Die gute Nachricht: Seit Andreas Clenow sein Buch vor vier Jahren veröffentlicht hat, ist die Forschung nicht stehengeblieben. Mit Backtest-Software wie Investox oder AmiBroker kann man heutzutage Handelssysteme wie das von Clenow selbst testen. BÖRSE ONLINE hat das getan und dabei einige wichtige Erkenntnisse gewonnen:

■ Die Momentum-Strategie erweist sich als recht robust. Sie schlägt den Index auf allen getesteten Märkten, sowohl was die Renditen als auch was die maximalen Kursrückgänge betrifft.
■ Etwa 20 Positionen gleichzeitig und in identischer Gewichtung im Depot zu halten liefert genauso gute Ergebnisse wie das komplizierte Rebalancing, das Clenow in seinem Buch beschreibt.
■ Eine monatliche Rotation liefert bessere Ergebnisse als der von Clenow beschriebene wöchentliche Rhythmus. Die Ausstiege geschehen ebenfalls am besten durch konsequente Rotation einmal pro Monat. Das heißt: Es wird immer in die 20 Aktien investiert, die in den zurückliegenden zwölf Monaten am stärksten und zugleich am gleichmäßigsten gestiegen sind.
■ Ein Berechnungszeitraum des Kursanstiegs von etwa einem Jahr liefert im Backtest bessere Jahresrenditen als der von Clenow gewählte Rückschauzeitraum von 90 Handelstagen.
■ Die 200-Tage-Linie als Marktfilter hat sich bewährt.