Die Deutschen waren schon einmal kurz davor, zur Aktiennation zu werden: vor 25 Jahren, als Manfred Krug die T-Aktie auch den nicht Aktienaffinen näherbrachte. Viele legten ihre Scheu vor dem Kapitalmarkt ab. Doch dann kam es bekanntlich anders. Seitdem hieß es, den New-Economy-Crash aus den Köpfen zu bekommen und die Vorteile der langfristigen Anlage am Kapitalmarkt hervorzuheben. Seit den mittleren 2010er-Jahren versuchen sich Robo-Advisors an dieser Aufgabe: Sie wollen ihren Kunden in Niedrigzinszeiten mit automatisierten Anlagestrategien langfristige Kapitalmarktrenditen bringen. Im Wesentlichen setzen sie dabei auf Portfolios passiver Aktien- und Rentenfonds, die je nach Risikoneigung und Erfahrung des Anlegers zusammengestellt werden.

Aus Kundensicht sollten das die neuen Sparbücher werden, in die man hineinspart und auf "zinsartige" Renditen wartet. Glaubte man den Pitchdecks der Start-ups, konnten Robo-Advisors nur ein Erfolg werden: Die Deutschen horteten Tonnen von Bargeld auf ihren Konten, das nicht oder sogar negativ verzinst wird. Sie benötigten nur ein wenig "Education" in Content-Marketing, und schon würden die Gelder in die Fondssparpläne der Robo-Advisors fließen. Nur: Das passierte nicht in dem Maße wie erwartet - auch wenn Experten und Verbraucherschützer Robo-Advisors als Alternative zu teuren Fonds oder risikoreichen Einzelaktien empfahlen. Das verwaltete Vermögen blieb hinter den Erwartungen zurück. Die Sutor Bank entwickelte damals einen Robo-Advisor und machte die gleichen Erfahrungen.

Was die Robo-Advisors nicht geschafft haben, scheint nun den sogenannten Neobrokern zu gelingen. Trade Republic, Justtrade, Smart Broker, alle gegründet in den letzten zwei Jahren, sehen Kundenzahlen, Handelstransaktionen und damit einhergehende Unternehmensbewertungen im exponentiellen Wachstum. Wieso schaffen es die Neobroker, so viel mehr Menschen an den Kapitalmarkt zu bringen als die Robo-Advisors mit ihrer Vernunftargumentation: Ist es die Lust am Zocken? Die radikale Vereinfachung des Wertpapierkaufs in Verbindung mit der User-Experience der Apps? Die drastische Senkung der Handelskosten bis hinunter auf null?

Sicherlich treibt eine Kombination dieser Faktoren die Entwicklung, beschleunigt durch die Randbedingungen: Negativzinsen betreffen inzwischen auch den Normalsparer. Die Börsenkurse steigen mit einigen Rückschlägen seit Jahren und diejenigen, die ohne Gehaltseinbußen durch Corona gekommen sind, hatten sowohl mehr Zeit als auch mehr Geld, um mit den Neobroker-Apps zu investieren. Der eigentliche Treiber der Entwicklung aber, der sich erst durch die oben geschilderte "Ursuppe" an Faktoren bilden konnte, ist die "Gamifizierung" der Geldanlage im tieferen Sinn. Für eine durch Social Media weit hör- und sichtbare Avantgarde ist der Kapitalmarkt zu einer Arena für eine Art Massively-Multiplayer-Online-Game im Real-Life-Modus geworden, an dem viele teilnehmen und dem noch mehr folgen und darüber diskutieren. Damit wurden Netzwerkeffekte ausgelöst, die die Kunden in Scharen zu den Neobrokern treiben - denn nur dort kann man technologisch an dem Spiel teilnehmen.

Man mag diesen Zockerursprung des Booms für schädlich halten. Das ist er zumindest auch für jene Anleger, die sich damit finanziell ruinieren; und systemrelevante Übertreibungen gilt es im Auge zu behalten. Am Ende aber, so meine Theorie, werden Millionen vor allem junger Menschen den Kapitalmarkt aus eigener Erfahrung emotional positiv kennengelernt haben und dann zusätzlich auch in "vernünftige" Fondssparpläne investieren. Wahrscheinlich werden auch die klassischen Robo-Advisors von dieser Entwicklung profitieren. Sie sind dann das ideale Angebot für die Anleger, die vom Kapitalmarkt profitieren wollen, ohne sich in die Brokerage-Spielarena zu begeben.

 


Hartmut Giesen

Giesen ist seit 2012 bei der Sutor Bank für digitale Geschäftsmodelle zuständig. Zu seinen Aufgaben gehören die Bereiche Fintech, digitale Partner und Krypto/Blockchain, der Auf- und Ausbau der Sutor Banking-Plattform sowie die Betreuung interner Digitalisierungsprojekte. Die Sutor Bank ist die Banking-Plattform sowohl für Robo-Advisors wie Growney als auch für Neobroker wie Justtrade.