Anstelle von Schnittchen vom Büfett mussten Anleger 2020 ihre Brote selbst schmieren und vor dem Rechner essen. Die HV-Saison 2021 läuft ähnlich ab - mit Änderungen im Detail. Brigitte Watermann

Vergangenes Jahr strömten die Siemens-Aktionäre im Februar in Scharen in die Münchener Olympiahalle. Corona? Damals noch weit weg. Doch als Joe Kaeser am gestrigen Mittwoch seine letzte Hauptversammlungsrede als Siemens-Chef hielt, erfolgte das in einem Aufnahmestudio ohne Aktionäre vor Ort. Die Siemens-Hauptversammlung (HV) ist wegen des vom Kalenderjahr abweichenden Geschäftsjahres per 30. September traditionell die erste im Jahr aus den Reihen der DAX-Gesellschaften. Doch dieses Mal ist nun auch hier alles anders als früher: Mit dem Abschied von Joe Kaeser ist bei Siemens ist auch eine Premiere verbunden - die HV 2021 findet komplett virtuell statt. So wie absehbar alle anderen Hauptversammlungen größerer Unternehmen, die bis zum Frühsommer folgen werden.

Möglich machen es die gesetzlichen Regelungen zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie aus dem Frühjahr 2020 sowie Neuregelungen kurz vor Weihnachten. Sie schufen die Grundlage dafür, dass Unternehmen in puncto HV nicht nur 2020, sondern auch 2021 handlungsfähig sind - Vorstände und Aufsichtsräte entlasten, Gewinnverwendungsbeschlüsse fassen konnten et cetera. Corona bringt (auch) für die Aktionärsdemokratie einen kräftigen Digitalisierungsschub. "Die virtuelle HV kommt ins Fliegen. Sie hat Gefallen gefunden bei nationalen, aber gerade auch bei internationalen Aktionären", resümiert Klaus Schmidt, Geschäftsführer der Adeus-Aktienregister-Service GmbH.

Anlegerrechte beschnitten

Angesichts der Umstände ist das Zwischenfazit zu virtuellen HVs hierzulande durchaus positiv. Oft saßen 2020 mehr Aktionäre vor den Rechnern, als früher in die Versammlungshallen geströmt waren. "Die Privatanleger haben ihre Teilnahmemöglichkeiten sehr gut genutzt. Mit der virtuellen HV wurden häufig mehr Aktionäre erreicht als sonst", bestätigt Franz- Josef Leven, stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Aktieninstituts (DAI). Jella Benner-Heinacher, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), gießt jedoch Wasser in den Wein: "Technisch haben die Hauptversammlungen gut geklappt. Aber Austauschmöglichkeiten der Aktionäre untereinander und ihre Rechte waren beschnitten."

Immerhin: Die Gesellschaften wurden im Lauf der Saison innovativer, und es gab auch vermehrt aktionärsfreundliche Formate: Video-Statements von Anlegerschützern und anderen Stakeholdern wurden eingespielt, Fragen der Aktionäre wie bei Osram von Moderatoren gestellt, Unternehmensfilme gezeigt.

"Im Lauf des Jahres gab es eine steile Lernkurve bei den Unternehmen", sagt auch Schmidt und ergänzt: "Gerade viele der Großen haben sich Mühe gegeben und die Anlegerfragen geclustert und thematisch gut aufbereitet." Benner-Heinacher bestätigt dies: "Gut gefallen hat uns zum Beispiel die Lösung der Deutschen Bank. Sie bot eine virtuelle Plattform für den Aus- tausch ihrer Aktionäre untereinander."

Aber es gab aus ihrer Sicht auch Negativbeispiele, allen voran die Axel Springer SE: "Erst wurde die HV mehrfach verschoben, dann wurde ein Squeeze-out auf die Tagesordnung gesetzt - und von 18 von uns gestellten Fragen bekamen wir ganze zwei beantwortet. Das ist uns massiv gegen den Strich gegangen." Anfang Januar hat die DSW Klage gegen den Squeeze-out-Beschluss eingereicht - und will bei der Gelegenheit gleich ein paar Grundsatzfragen der Corona-HV mitbeantworten lassen. So will sie geklärt wissen, ob bei einer virtuellen Hauptversammlung nahezu alle Aktionärsrechte eingeschränkt werden dürfen - und dies unabhängig von der Tragweite der Beschlussfassungen.

Das Wie bleibt Ermessenssache

Die Corona-Notvorschriften wurden inzwischen für die HV-Saison 2021 verlängert - mit wichtigen Änderungen im Detail. Sie greifen aber erst für Hauptversammlungen, die nach dem 28. Februar stattfinden. "Das sind leichte Verbesserungen, aber nur Trippelschritte und kein großer Durchbruch im Sinne der Aktionäre", meint Benner-Heinacher.

So mussten Anleger bisher Fragen zur Tagesordnung bis zu zwei Tage vorher einreichen, durften nicht davon ausgehen, dass sie ihre Fragen beantwortet bekommen und konnten schon gar nicht auf der laufenden HV Nachfragen stellen. Ab März 2021 wird aus der Fragemöglichkeit der Aktionäre zur Tagesordnung nun ein Fragerecht. Der Vorstand hat jetzt nicht mehr die Wahl, ob er zuvor von Anlegern eingereichte Fragen in der HV überhaupt aufgreift. "Aber es bleibt im Ermessen der Unternehmen, wie sie Fragen beantworten - ob sie bei gleichgerichteten Fragen die Antworten bündeln oder fünfmal dasselbe antworten", präzisiert Leven.

Auch müssen Fragen nicht mehr spätestens zwei Tage, sondern nur noch einen Tag vor der HV eingereicht werden. Selbst nach Ansicht von Aktionärsschützern ist das "kein Fortschritt, das macht den Unternehmen nur Stress und bringt nichts", so Benner-Heinacher. Ihr geht es um etwas anderes: "Wenn zwischen dem Ablauf der Fragefrist und der HV etwas passiert, zum Beispiel eine Gewinnwarnung heraus- oder Quartalszahlen bekannt gegeben werden, dann muss ich als Aktionär nachfragen können. Wir brauchen die Möglichkeit zu direkten Nachfragen, müssen Gegenanträge stellen können und benötigen ein Rederecht." Doch das wird auch mit den geänderten Übergangsregeln für die virtuelle HV nicht zur Pflicht. Einige Unternehmen erwägen das allerdings, erzählt HV-Dienstleister Schmidt: Sein Haus könnte Nachfragen während der HV "auf jeden Fall möglich machen. Ob die Gesellschaften das nutzen, bleibt abzuwarten."

Einen klaren Lichtblick gibt es. Eigentlich waren Gegenanträge nach den Corona- Notregeln 2020 nicht vorgesehen, aber einige AGs handelten aktionärsfreundlich. Anträge oder Wahlvorschläge von Aktionären, die vor der HV ordnungsgemäß zugänglich gemacht wurden, galten als auf der HV gestellt und wurden daher behandelt. "Diese sogenannte Fiktionslösung hat sich durchgesetzt, sie dient dem Anlegerinteresse und gibt den Unternehmen Rechtsklarheit", sagt Leven. Die Fiktionslösung wurde inzwischen für 2021 rechtlich verankert.

Doch wie geht es 2022 weiter? Wenn dieses Jahr die Weichen nicht richtig gestellt werden, könnte die HV-Saison 2022 wieder wie vor Corona ablaufen, mahnen Experten. Die wünschenswertere Entwicklung schildert Paul Achleitner, Aufsichtsratschef der Deutschen Bank, im "Handelsblatt": Digitale HVs sollten so interaktiv wie möglich gestaltet werden für ein Erlebnis, "das so nah wie möglich an das einer Präsenzhauptversammlung herankommt. So können wir die Voraussetzung dafür schaffen, dass die digitale Hauptversammlung nicht nur zum Intermezzo, sondern dauerhaft eine Alternative zu physischen Aktionärstreffen wird."

Benner-Heinacher ist etwas zurückhaltender. Die DSW zieht es vor, Präsenz-HVs beizubehalten oder das Beste aus Präsenz- und digitaler Welt in Hybrid-HVs zu verbinden. "Wenn die Unternehmen virtuelle HVs so gut finden, dann sollten sie richtig tolle veranstalten, auf denen auch Diskussionen und Nachfragen möglich sind. Wenn sie zeigen, dass das geht, werden wir vielleicht auch Fans."