€uro: Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer stammt wie Sie aus dem Saarland. Würden Sie gern ihren Namen tragen?

Peter Hartz: Warum fragen Sie?

Weil der Name Hartz in der Öffentlichkeit keinen guten Klang hat. Hartz IV gilt vielen als Symbol eines herzlosen Staates.

In der Tat hätte ich früher über Benennungen nachdenken sollen, was die Reformen des Jahres 2002 anbetrifft. Sie entsprangen weitgehend der Arbeit der "Regierungskommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", die ich geleitet habe. In deren ersten Tagen sagte ein Mitarbeiter: Diesen langen Titel schreiben die Journalisten vielleicht ein- oder zweimal und werden es dann Hartz-Kommission nennen. Ich habe das nicht geglaubt, leider hatte er recht. Heute würde ich "Job-Kommission" vorziehen.

2009 wurde "Hartzen" das Jugendwort des Jahres und steht abwertend für Herumhängen. Im TV-Sender RTL 2 läuft derzeit die Serie "Hartz und herzlich", die Menschen in prekären Lebensverhältnissen zeigt. Wie fühlen Sie sich, wenn Ihr Name in dieser Art und Weise prominent ist?

Es stimmt: Mein Name polarisiert immer noch. Doch habe ich mich daran gewöhnt, weil er ja millionenfach in solchen Zusammenhängen genannt wird. Übrigens bemühe ich mich selbst um korrekte Formulierung und spreche immer noch von Arbeitslosengeld II. Nur wenn jemand von Hartz IV redet und fragt, ob ich verstehe, was er meint, dann nicke ich. Zurück zu inhaltlichen Dingen: Ich finde es unfair, dass man mich für die Kritikpunkte am Arbeitslosengeld II in Haftung nimmt. Hier werde ich zu Unrecht geprügelt.

Was meinen Sie damit?

Etwa dafür, dass der sogenannte Regelsatz viel zu niedrig sei. Fakt ist: Wir haben 2002 hierfür die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe vorgeschlagen. Das waren damals 511 Euro, tatsächlich wurden es allerdings lediglich 345 Euro. Der Unterschied entsprang dem späteren Gesetzgebungsprozess und entsprach keineswegs unserer Intention.

Auch heute noch liegt der Satz niedriger, als Sie damals wollten, nämlich bei 446 Euro. Warum ist es offenbar niemandem ein Anliegen, dass Hartz IV die Funktion erfüllt, das es aus Ihrer Sicht haben sollte?

Mit dem Ende der Regierung Schröder fiel der Machtprotagonist für die Reform weg. Sie wurde ein Waisenkind. Niemand hatte Überzeugung und Elan, sie fortzuführen. Die Regierung Merkel hat die Reform dankbar übernommen und über die Jahre davon politisch profitiert. Aber eben nicht weiterentwickelt. Dabei entspringt der sozialethisch- christliche Ansatz unserer Kommission dem Menschenbild aller großen Parteien.

Und das wäre?

Wir müssen alles dafür tun, damit Menschen nicht in Langzeitarbeitslosigkeit verfallen. Weil Arbeit etwas Positives ist. Sie prägt die Würde des Menschen. Es ist eine Erfüllung für den Einzelnen, wenn er seine Tätigkeiten für sich, seine Familie und die Allgemeinheit einbringen kann.

Viele meinen, die Reformen zeigen eher ein unsoziales, unchristliches Menschenbild. Zum Beispiel, dass Leute, die schlicht und einfach nicht arbeiten können, ständig gegängelt werden.

Das ist ein Zerrbild. Die Bundesagentur für Arbeit gängelt die Leute nicht - und die Jobcenter auch nicht. Zu sehen ist das an den Sanktionen, die gegen Langzeitarbeitslose verhängt werden können, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Hierum wird ein riesiges politisches Tohuwabohu veranstaltet. Tatsächlich treiben es aber nur drei Prozent der Langzeitarbeitslosen so weit, dass sie Sanktionen erfahren, 97 Prozent verhalten sich regelgemäß. Das ist ein Kompliment für alle Beteiligten, eine sensationelle Zahl. Man muss immer im Hinterkopf behalten: Wenn es keinerlei Sanktionsmechanismus gibt, führt das zur Ineffizienz.

Genau diese Sanktionen will Ihre Partei, die SPD, nach der Bundestagswahl weitgehend abschaffen. Was halten Sie davon?

Diese Pläne machen mich, ehrlich gesagt, sprachlos.

Die Arbeitsmarktreformen haben bewirkt, dass sich die SPD gespalten hat. Viele Mitglieder und Wähler sind zur heutigen Linken abgewandert. Bedauern Sie das?

Ich bedauere dies, aber mir fehlt dafür das Verständnis. Wir waren damals überzeugt: Das Problem der Arbeitslosigkeit ist zu lösen. Und unter dem Strich haben dies die Reformen zum guten Teil erreicht und sind ein großer Erfolg geworden.

In der Tat ist es unter Ökonomen weitgehend unstrittig, dass der Arbeitsmarktboom der vergangenen 15 Jahre zu gutem Teil auf Ihren Reformen beruht. Fühlen Sie sich zu wenig gewürdigt?

Diese Frage ist für mich nicht relevant.

Sind Sie frustriert?

Nein, eher motiviert zu weiteren Anstrengungen.

In welcher Form?

Zum Beispiel, das Thema Zeitwertkonten ins digitale Zeitalter zu überführen. Viele Menschen wünschen sich im Lauf ihres Berufslebens neben der Aus- und Weiterbildung mehr Zeit für Privates. Sei es, um Angehörige zu pflegen, ein Sabbatical einzulegen, mehr Zeit für die Familie zu haben oder früher in Rente zu gehen. Mit einem Zeitwertkonto geht das brutto für netto. Das heißt, Sie können auch Ihre Steuern temporär bis zur Entnahme für sich anlegen. Das Modell erlaubt es, Entgeltansprüche in ein Konto einzuzahlen, genauso wie Überstunden, nicht genutzten Resturlaub oder Sondervergütungen. So arbeiten Sie quasi auf Vorrat.

Und was fange ich damit letztlich an?

Fällt dann zeitlicher Bedarf für eine Lebensphase an, können Beschäftigte ihr Guthaben einlösen. Diese Planung der Lebenszeit wäre über eine App für jedermann besonders leicht möglich. Daran arbeiten wir gerade. Und weil es die Möglichkeit der SHS-Stiftung übersteigt, haben wir Ende letzten Jahres ein Start-up gegründet, die Timefonds AG. Gründer sind mein Sohn Michael und Josef Fidelis Senn ...

... ehemaliger Leiter der Konzernstelle Zentrales Personalwesen bei VW ...

... und ich selbst bin Gründungsvorstand.

Was haben Sie vor?

Derzeit wird die Software entwickelt und am Internetauftritt gearbeitet. Ich hoffe, dass wir im Frühjahr nächsten Jahres auf den Markt gehen können. Wir suchen noch Investoren.

Wie sind die Erwartungen an Umsatz und Gewinn? Wollen Sie irgendwann an die Börse gehen?

Es ist noch zu früh, um hier Planzahlen oder Ähnliches zu nennen.

Themenwechsel zu Volkswagen, Ihrem langjährigen Arbeitgeber: Im Jahr 2005 kam im Zuge der sogenannten Korruptionsaffäre heraus, dass Sie dem damaligen Betriebsratschef Klaus Volkert Sonderboni in Höhe von fast zwei Millionen Euro genehmigten und seine brasilianische Geliebte beschäftigten. Was mit Ihrem Rücktritt als Arbeitsdirektor und Ihrer Verurteilung zu einer Bewährungs- und Geldstrafe endete. Wie stehen Sie heute dazu?

Zu dieser Sache können Sie alles in den Pressearchiven nachlesen.

Zurück zum Arbeitsmarkt: Seit diesem Juli gilt in Frankreich ein Gesetz, das die Arbeitslosenversicherung umbaut - ganz im Sinne Ihrer Reformen.

Ich freue mich sehr, dass hier etwas weitergeht. 2014 hatte ich mit französischen Kollegen an einem Konzept gearbeitet. Der heutige Staatspräsident Emmanuel Macron war damals Berater seines Vorgängers François Hollande. Ich konnte die Ideen bei einem Mittagessen mit beiden diskutieren - und Macron hatte sie sofort durchdrungen. Arbeit ist zumutbar, wenn ein Arbeitsloser geistig, seelisch und körperlich dazu in der Lage ist. Ein Angebot darf er nur dann ablehnen, wenn wichtige Gründe entgegenstehen.

Sind Sie stolz darauf, dass das Konzept des Jahres 2002 nun wieder aktuell ist - zumindest in Frankreich?

Frankreich ist eine große Nation. Sie erarbeiten ihre eigenen Lösungen. Schön, wenn Anregungen aus Deutschland einfließen.


Vita

Peter Hartz (80) wurde im saarländischen St. Ingbert als Sohn eines Drahtziehers und Hüttenarbeiters geboren. Er macht eine Ausbildung zum Industriekaufmann, wird Mitglied der IG Metall und der SPD und studiert auf dem zweiten Bildungsweg Betriebswirtschaft. Ab 1976 arbeitet er als Arbeitsdirektor in der saarländischen Stahlindustrie, ab 1979 bei den Dillinger Hüttenwerken.

1993 holt ihn der damalige VW-Chef Ferdinand Piëch als Personalvorstand zum Autobauer, der sich in einer schweren Krise befindet. Hartz erfindet die Vier-Tage-Woche, eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich - und kein VW-Mitarbeiter landet auf der Straße. Mit dem Tarifmodell "5000 x 5000" schafft er Langzeitarbeitslosen eine Perspektive.

2002 leitete er die sogenannte Hartz-Kommission (siehe Kasten auf der folgenden Seite). Er ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Dann bringt ihn seine Verwicklung in die VW-Korruptionsaffäre zu Fall. Hartz tritt aus dem Vorstand zurück und wird 2007 zu einer Bewährungs- und Geldstrafe verurteilt. 1994 erhielt er von der Universität Trier die Ehrendoktorwürde. Der damalige saarländische Ministerpräsident Peter Müller verlieh ihm 2004 den Professorentitel. Hartz lebt heute noch im Saarland. Er ist Stifter und Kuratoriumsmitglied der SHS Foundation, einer Stiftung mit dem Ziel, die Region international bekannt zu machen.


Hartz- Kommission

Die "Regierungskommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" wurde vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Februar 2002 eingesetzt, um neue Ideen für den Arbeitsmarkt zu entwickeln. Schröder hatte zum damaligen VW-Vorstand Peter Hartz einen direkten Draht, beide kannten sich aus dem Aufsichtsrat. Außerdem gehörten Gewerkschafter, Arbeitgeber, Wissenschaftler und Unternehmensberater zum Team, das schnell unter Hartz-Kommission firmierte. Viele Vorschläge wurden Teil der sogenannten Agenda 2010 - ein Reformprogramm, das Schröder 2003 in einer Regierungserklärung ankündigte. Die Konzepte unter dem Motto "Fördern und Fordern" erhielten in vier Phasen (Hartz I bis IV) Gesetzeskraft, ohne die ursprünglichen Vorschläge eins zu eins umzusetzen. Bei Hartz I und Hartz II ging es um Reformen des Arbeitsmarkts im engeren Sinne, bei Hartz III und IV wurden der Umbau der damaligen Bundesanstalt für Arbeit und die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe geregelt.