Diese Geschichte erzählte Philip
Carret besonders gern, um seine
Investmentphilosophie zu verdeutlichen:
Auf dem Waschbecken
in einem Hotelzimmer fand er einmal
eine Seife der Marke Neutrogena. Er
mochte die Seife auf Anhieb und begann
Anteile der Herstellerfirma für einen Dollar
pro Aktie zu kaufen. Später, als der Konsumgüterkonzern
Johnson & Johnson die
Firma übernahm, verkaufte Carret seine
Aktien zum Preis von 35 Dollar.
Der gesunde Menschenverstand war für
ihn das wichtigste Kriterium bei der Aktienauswahl.
Und Carret, ein Value-Investor
wie Staranleger Warren Buffett, blieb auch
in schwierigen Zeiten bei seiner "Basic
Value"-Strategie: Er legte den Schwerpunkt
auf Firmen, die Dienste oder Produkte anboten,
die die Menschen jeden Tag brauchen.
So wie zum Beispiel eine Neutrogena-
Seife. Seine Überzeugung: "Diejenigen, die
kurzfristig interessante Titel kaufen und
dann sofort wieder herausgehen, wenn
sich der Wind dreht, die sterben nur selten
reich. Im Gegensatz zu vielen geduldigen
Investoren."
Nicht von schlechten Großeltern
Carret wuchs in der Stadt Lynn im USBundesstaat
Massachusetts als einziges
Kind eines Rechtsanwalts und einer Sozialarbeiterin
auf. Obwohl sein Vater, der an
der Eliteuniversität Harvard studiert hatte,
über ein gutes Einkommen verfügte, ging
er mit Geld eher sorglos um. Als Philip
16 Jahre alt war, erkannte er: "Wenn ich
einmal reich werden sollte, dann nur dank
meiner eigenen Anstrengungen."
Vorbild war sein Großvater Joseph, der
in New York zu Geld gekommen war und es
in eine Zuckerrohrplantage auf Kuba investiert
hatte. In guten Jahren warf sie einen
Ertrag von 25 000 Dollar ab, für die damalige
Zeit eine beträchtliche Summe. Die Profite
erlaubten es Joseph, sein Frührentnerdasein
auf der Karibikinsel zu genießen.
Philip glaubte, dass der schnellste Weg
zum Reichtum über die Wissenschaft
führe. Er bestand das Aufnahmeexamen in Harvard und entschied sich für ein Chemiestudium, das er 1917 mit dem Bachelordiplom
abschloss. Es war die Zeit, als in
Europa der Erste Weltkrieg tobte. Carret
wurde als Jagdflieger ausgebildet. Er flog
eine britische Sopwith Camel, einen einmotorigen
Doppeldecker, der als eines der
erfolgreichsten Jagdflugzeuge des Ersten
Weltkriegs gilt. Carrets Einheit wurde nach
Frankreich verlegt, er kam aber nicht mehr
zum Einsatz, weil Deutschland inzwischen
kapituliert hatte. Carret war ein ausgesprochen
patriotischer Amerikaner. Während
des Zweiten Weltkriegs meldete er sich freiwillig
bei der US Air Force. Wegen einer
Handverletzung musste er seine Pilotenkarriere
allerdings aufgeben.
Journalist auf Abwegen
Nach Kriegsende nahm Carret eine Stelle
als Reporter beim amerikanischen Wirtschaftsmagazin
"Barron’s" an. Hier lernte
er die Mechanismen der Börse kennen und
entwickelte schnell ein Gespür für gute Investments.
Das wollte er jetzt auch privat
nutzen: Er gründete mit 25 000 Dollar, die
er von Freunden und Verwandten erhalten
hatte, einen Investmentpool, aus dem 1928
der Pioneer Fund hervorging - der drittälteste
Investmentfonds der USA.
Es waren schwierige Zeiten. Der Fonds
verlor Geld nach dem Börsencrash von
1929 und der nachfolgenden großen Depression.
Aber ab Mitte der 30er-Jahre erzielte
Carret bis zu seinem Ausscheiden aus
dem operativen Management regelmäßig
überdurchschnittliche Erträge. Sein Fonds
erreichte den höchsten kumulierten Wert
in der gesamten Fondsbranche, nämlich
eine Million Prozent, basierend auf den
Daten von Lipper und Morningstar. Heute
verwaltet Pioneer Investments ein Vermögen
von 154 Milliarden Dollar. Das Unternehmen
ist in 26 Ländern tätig und beschäftigt
mehr als 2000 Mitarbeiter.
Für Warren Buffett war Carret ein Held,
ein Vorbild. Er verglich ihn gern mit Lou
Gehrig, dem legendären Superstar des
amerikanischen Baseballs: "Phil ist der
Lou Gehrig des Investmentbusiness. Er hat
die wirklich beste langfristige Investmentperformance
von allen, die ich kenne".
Was war das Geheimnis seines Erfolgs?
Sein Anlagestil ist geprägt vom Value Investing.
Solche Investoren versuchen, Aktien
von soliden Unternehmen zu finden, und
sie versprechen langfristig ausgerichteten
Anlegern eine stabile Rendite. Von riskanten
Wachstumswerten lassen sie die Finger.
Sie meiden das Risiko und akzeptieren,
dass in Boomphasen die Rendite zeitweise
hinter der Marktentwicklung zurückbleibt.
Carret warnte auch immer davor, kurzlebigen
Trends nachzulaufen. Geduld sei die
wichtigste Eigenschaft eines erfolgreichen
Investors.
1963 zog sich Carret aus dem Management
des Pioneer Fund zurück. Voller
Stolz blickte er zurück: "Wer mir damals
10 000 Dollar anvertraut hat, ist heute
35-facher Millionär." Ein Dasein als Rentner
kam für ihn trotzdem nicht infrage. Er
gründete die Firma Carret & Co., die sich
um das Vermögen wohlhabender Amerikaner
kümmerte. 25 Jahre später verkaufte er
seine Anteile, arbeitete aber selbst als Hundertjähriger
noch drei Tage pro Woche unentgeltlich
für die Firma.
An seinem 100. Geburtstag, ein Jahr vor
seinem Tod, trat er in Amerikas populärer
"Today"-Show auf. Auf die Frage nach dem
Geheimnis seines hohen Alters antwortete
er: "Erstens esse ich mein Fleisch fast roh,
zweitens trinke ich meinen Bourbon Whiskey
unverdünnt - und drittens: Wenn ich
den Wunsch nach Bewegung verspüre,
dann lege ich mich sofort hin."
Neben der Börse hatte Carret noch eine
andere Leidenschaft: das Beobachten von
Sonnenfinsternissen. Zum ersten Mal hatte
er dieses Phänomen 1925 verfolgt. Es war,
wie er sagte, "eine zutiefst religiöse Erfahrung".
Carret liebte es zu reisen, flog anfangs
der 90er-Jahre sogar in die Antarktis.
"Auf den Eisschollen hat er sich dann lange
mit den Pinguinen unterhalten", verriet
später sein Sohn Donald.
PEB