Antizyklisches Investieren schreiben sich Börsenprofis gern auf die Fahnen. Mit dieser Strategie versuchen sie, Erträge zu erzielen, indem sie entgegen der breiten Masse handeln - antizyklisch eben. Das bedeutet prinzipiell, bei schlechter Marktstimmung zu kaufen und bei guter Stimmung zu verkaufen. Der zur Börsenweisheit gewordene Spruch von Carl Meyer von Rothschild "Kaufen, wenn die Kanonen donnern, verkaufen, wenn die Violinen spielen" fasst diese Vorgehensweise in markigen Worten zusammen.
Die Herausforderung besteht allerdings darin herauszufinden, was die Mehrheit denkt. Zu manchen Zeitpunkten mag dies einfach erscheinen. Wenn Boulevardmedien ständig über hohe Börsengewinne berichten, ist die Stimmung meist (zu) gut, und man sollte nach dem antizyklischen Ansatz (englisch: contrarian) aussteigen. Andererseits ist die Stimmung in Börsenturbulenzen wie im März 2020 zu Beginn der Corona-Krise meist schlecht, und man müsste als Antizykliker einsteigen.
Das Problem des Timings
Dennoch bleibt die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt offen, denn oft dauert eine irrationale Phase länger, als Anleger solvent bleiben können. Zudem herrscht um die Börse herum eine wahre Informationsflut, die es in der Praxis schwierig macht, die Marktstimmung verlässlich zu messen, ohne sich ablenken zu lassen. Aus diesem Grund lohnt ein Blick auf den Optionsmarkt, der die Stimmung der Börsianer recht zuverlässig anzeigt. Hier wird in der Regel mit Hebeln operiert, um hohe Gewinne zu erzielen oder bestehende Positionen gegen Verluste zu schützen. Terminmarktakteure sind daher häufig mit mehr Emotionen bei der Sache als Anleger mit ungehebelten Aktienpositionen, da für sie mehr auf dem Spiel steht. Das macht den Optionsmarkt zu einem sinnvollen Angst-Gier-Barometer.
Zudem ist der Optionsmarkt transparent. Es gibt - zumindest in den USA - statistisches Material über viele Jahre, das darstellt, mit welcher Anzahl an Positionen an jedem einzelnen Tag (und sogar zu jeder Stunde) auf fallende und auf steigende Kurse spekuliert wurde. Dies macht Optionsmarktdaten zu einem guten Instrument für statistische Auswertungen.
Auf steigende Kurse wird mit Call-Optionen spekuliert, auf fallende mit Put-Optionen. In Phasen, in denen die Marktteilnehmer optimistisch sind, werden normalerweise mehr Calls gehandelt. Weil sie an den steigenden Kursen überproportional verdienen möchten, reicht vielen Anlegern die normale Aktie nicht mehr aus. Sie werden oft gierig, wollen noch mehr Gewinn und kaufen daher vermehrt Call-Optionen. Da jedem Optionskäufer auch ein Verkäufer gegenübersteht, gleicht sich das in Einzelpositionen zwar aus, doch die Aussagekraft speist sich aus der Menge gehandelter Calls und Puts. In Phasen, in denen die Mehrheit Angst vor Abstürzen hat, werden mehr Puts gekauft und umgekehrt.
Das Put-Call-Verhältnis
Teilt man nun für jeden Börsentag die Anzahl der gehandelten Put-Optionen durch die der Call-Optionen, erhält man das sogenannte Put-Call-Verhältnis, englisch: Put-Call-Ratio. Hier muss man ein wenig um die Ecke denken, da die Puts im Zähler stehen und die Calls im Nenner. Werden beispielsweise 80 Puts und 100 Calls gehandelt, liegt das Put-Call-Verhältnis bei 0,8. Werte unter eins besagen folglich, dass der Optimismus überwiegt. Bei Werten über eins haben die Pessimisten die Oberhand. Die Grafik auf dieser Seite verdeutlicht, dass sich das Put-Call-Ratio an der größten Optionsbörse der Welt, der Chicago Board Options Exchange (CBOE), nahezu spiegelbildlich zum Kurschart des Dow-Jones-Index verhält.
Auffällig ist das Corona-Tief des Dow Jones im März 2020, das von einem hohen Put-Call-Verhältnis über eins begleitet wird. Zu diesem Zeitpunkt wurden deutlich mehr Put-Optionen gehandelt als Calls, weil die Börsianer Angst vor weiter fallenden Kursen hatten und niemand mehr große Lust verspürte, gehebelt auf steigende Kurse zu setzen. Im Nachhinein wäre dies das perfekte "Kaufen, wenn die Kanonen donnern"-Signal für den Aktienmarkt gewesen.
Doch wie baut man aus diesen Erkenntnissen eine Handelsstrategie auf, die langfristig mehr Ertrag (und vor allem weniger Rückschläge) bringt als der sogenannte Buy-and-Hold-Ansatz, bei dem Anleger einmal kaufen und dann im Markt bleiben? Da die Antwort auf diese Frage keineswegs trivial ist, haben wir mithilfe der Software AmiBroker verschiedene Testreihen durchgeführt. Daten über das Put-Call-Ratio an der CBOE auf Tagesbasis liegen seit 1997 vor. Daher konnte die Redaktion über einen Zeitraum von fast 24 Jahren zurückverfolgen, welche Handelssignale gute Renditen versprechen und welche nicht. Ergebnis: Der mit Abstand profitabelste Ansatz ist es, aus den Daten zum Put-Call-Ratio einen 200-Tage-Durchschnitt zu bilden, analog zur bekannten 200-Tage-Linie aus der Technischen Analyse.
Die 15-Prozent-Regel
Wenn sich der Mittelwert von zwei aufeinanderfolgenden Handelstagen (das ist wichtig!) des Put-Call-Verhältnisses mehr als 15 Prozent über dem 200-Tage-Durchschnitt befindet, wird ein ETF auf den Dow Jones gekauft. Dieser wird wieder verkauft, wenn das Put-Call-Ratio im Zweitagesmittel um mehr als 15 Prozent unter seinen 200-Tage-Durchschnitt fällt. Die darauf aufbauende Angst-Gier-Strategie erzielte einen durchschnittlichen Jahresgewinn von 8,8 Prozent, während die Buy-and-Hold-Methode im gleichen Zeitraum 6,6 Prozent gebracht hätte.
Das klingt zunächst nicht allzu spektakulär, summiert sich dank der Macht des Zinseszinses über einen längeren Zeitraum aber zu einem gewaltigen Unterschied auf. Aus einer Anfangsinvestition von 1000 Dollar im Jahr 1997 wären mit der Angst-Gier-Strategie bis heute 7260 Dollar geworden. Bei einer Anlage in einen Dow-Jones-ETF wären die 1000 Dollar im gleichen Zeitraum lediglich auf eine Summe von 4225 Dollar angewachsen.
Besonders bemerkenswert ist dabei, dass die Angst-Gier-Strategie nur 48 Prozent der Zeit im Markt gewesen wäre. Trotz der halbierten Investitionsdauer erzielte sie erheblich mehr Ertrag als der Vergleichsindex. Das liegt insbesondere daran, dass die Strategie durch die Vorsichtsmaßnahme, bei zu viel Gier im Markt Cash statt Aktien zu halten, wesentlich geringere Rückgänge hinnehmen musste als der Vergleichsindex.
Während der Dow Jones von 2000 bis 2002 etwa 35 Prozent verlor, waren es bei der Put-Call-Strategie nur 20 Prozent. 2008 sackte der Dow gar um 54 Prozent ab. Die Angst-Gier-Strategie kam exakt mit der Hälfte (27 Prozent Verlust) davon. Und auch in der Corona-Krise 2020 blieb der maximale Verlust mit 26 Prozent deutlich unter dem stärksten Rückgang des Index, der zwischenzeitlich 37 Prozent einbüßte.
Da der Dow Jones als reiner Kursindex keine Dividenden enthält, könnten die Ausschüttungen das Bild zu seinen Gunsten etwas verbessern. Allerdings funktioniert die Strategie auch auf anderen US-Märkten. Den Nasdaq-100-Index, in dem die Dividendenrendite mit 0,6 bis 0,7 Prozent eine untergeordnete Rolle spielt, schlägt die Angst-Gier-Strategie ebenfalls um mehr als zwei Prozent jährlich (13,3 gegenüber 11,1 Prozent). Da die Nasdaq von Haus aus höhere Renditen verspricht als der Dow Jones, ist die Umsetzung hier sogar besonders profitabel.
Die notwendigen Hausaufgaben
Für Privatanleger stellt sich nun die Frage, wie man an die erforderlichen Daten kommt. Profidienste mit gutem Datenmaterial wie Norgate Data kosten rund 1500 Euro im Jahr. Daher gilt die Devise: ohne Fleiß kein Preis. Auf der Internetseite der CBOE kann man unter dem Link https://www.cboe.com/us/options/market_statistics/daily/ die Daten für jeden Handelstag einsehen, indem man den Kalender mit dem blau unterlegten Datum klickt. Dann heißt es: die letzten 200 Tage zurückverfolgen, in eine Excel-Tabelle eintragen und den Mittelwert berechnen. In einer weiteren Spalte muss man dann den Mittelwert des Put-Call-Ratios über die zurückliegenden beiden Tage eintragen. Liegt der 200-Tage-Schnitt beispielsweise bei 1,50, wäre ein Stand des Put-Call-Verhältnisses von 1,275 ein Kaufsignal. Ein Verkaufssignal würde sich unter 1,275 einstellen (immer bezogen auf den Zweitagesmittelwert).
Aktuell liegt der Zwei-Tages-Durchschnitt im für die Angst-Gier-Strategie relevanten Index-Put-Call-Ratio (auf der CBOE-Website das zweite von oben) bei 1,40. Damit bewegt sich das Angstbarometer zwar über dem 200-Tage-Durchschnitt, aber trotzdem etwa im neutralen Bereich. Für die Angst-Gier-Strategie gibt das Put-Call-Ratio im Moment also grünes Licht.
Der Wert für Einzelaktien hingegen (Equity Put/Call Ratio) lag bei Redaktionsschluss nur bei 0,47, was damit zu tun hat, dass viele Anleger mit Einzelaktien wie Tesla, Apple oder Microsoft auf Kursgewinne spekulieren und sich andererseits über Put-Optionen in den Indizes absichern. Legt man die langfristigen Mittelwerte über mehrere Jahre zugrunde, bewegt sich sowohl das Put-Call-Verhältnis für Einzelaktien als auch das für Indizes mit Werten um 1,40 und 0,5 im vollkommen normalen Bereich.
Stimmungsbarometer für den DAX
Auch für den deutschen Markt gilt: Ohne akribische Heimarbeit ist die Profistrategie kaum umzusetzen. Zwar bietet Ariva unter dem Link https://www.ariva.de/put-call-sentiment_dax-index/chart die Möglichkeit, das Put-Call-Verhältnis auf den DAX als Chart darzustellen. Unter dem Reiter "Chartanalyse" lässt sich auch die 200-Tage-Linie hinzufügen. Allerdings ist sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen, die erforderlichen 15-Prozent-Abweichungen vom Mittelwert können bestenfalls geschätzt werden. Also bleibt wiederum nur: Daten für 200 Tage sammeln, in eine Excel-Tabelle eintragen und diese regelmäßig aktualisieren.
Da die Stimmung in den USA jedoch für alle Weltbörsen den Takt vorgibt, reichen die CBOE-Daten auch für deutsche Anleger vollkommen aus. Sie müssen nur regelmäßig aktualisiert werden, um den Wechsel von Angst zu Gier (und zurück) rechtzeitig zu erkennen.