von Max Otte

Mit "Reichtum ohne Gier - Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten" legt Sahra Wagenknecht nach "Freiheit statt Kapitalismus" und "Wahnsinn mit Methode" ihr mittlerweile drittes Wirtschaftsbuch vor, das aktuell im Buchhandel erschienen ist. In ihrem Buch zeigt sie grundsätzliche Probleme und Deformationen unserer aktuellen Wirtschaftsordnung sowie Lösungsansätze klar und verständlich auf. Und es gibt viele Widersprüche, wie zum Beispiel: "Jeder von uns hat heute das Recht, 1 Million Euro von seinem Bankkonto per Knopfdruck nach Singapur oder Panama zu überweisen oder damit an der Wall Street Aktien zu kaufen. Das war nicht immer so - ist uns dieses Recht, das die meisten Menschen nie im Leben ausüben werden, wirklich so heilig, dass wir dafür die vielen Nachteile des freien Kapitalverkehrs, etwa die Steuerflucht oder die Erpressbarkeit der Staaten, in Kauf nehmen wollen?"

Damit ein solch fundamental kritisches Werk gelingen kann, sind zwei Voraussetzungen notwendig: erstens die Unabhängigkeit und zweitens eine breite Wissensgrundlage. Die erste hat Wagenknecht sich bewahrt, die zweite erarbeitet.

Als Outsiderin kann man die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag und häufige Diskutantin in Fernsehrunden mittlerweile nicht mehr bezeichnen. Dazu ist sie zu bekannt. Aber Sahra Wagenknecht hat sich den Blick von außen auf unser System und ihre Unabhängigkeit bewahrt. Das gelingt nur wenigen.

Wagenknecht gehört zu der kleinen Gruppe von Parlamentariern - ich schätze ihre Zahl auf höchstens zehn Prozent des Bundestages - die sich ihrem Gewissen auch dann verpflichtet fühlen, wenn dies Nachteile mit sich bringt. Diese Unbeugsamkeit zeichnete sie schon in der DDR aus, als sie beim Wehrunterricht die Nahrungsaufnahme verweigerte, nicht studieren durfte und sich mit Nachhilfestunden über Wasser hielt.

Akte ähnlichen zivilen Ungehorsams sind weder von Angela Merkel noch von Joachim Gauck bekannt. Spannend, dass sowohl Merkel als auch Gauck mit der Bezeichnung der DDR als "Unrechtsregime" keine Probleme haben, Wagenknecht, die aktiv Widerstand leistete, die Bezeichnung so pauschal nicht stehen lassen möchte.

Unabhängigkeit alleine reicht nicht, natürlich ist auch viel historisches und ökonomisches Wissen notwendig. Und das hat Sahra Wagenknecht, die nach eigenen Angaben schon als Vier- oder Fünfjährige lieber las, als in der Kinderkrippe herumzutollen und die Goethe als großen Geist bewundert. In einem Buch aus dem Jahr 2013 legt sie zum Beispiel die Wurzeln der teils fehlgeleiteten Hegelkritik des jungen Marx dar. Und ihre nebenbei abgelegte volkswirtschaftliche Dissertation zum gesamtwirtschaftlichen Sparverhalten dürfte - anders als die Dissertationen so manch anderer Politiker - Bestand haben.

Die überwiegende Mehrheit der Ökonomen traut sich an fundamentale gesellschaftliche Problemstellungen gar nicht mehr heran, sie rechnen lieber komplizierte Partialmodelle mit komplexen Gleichungen. Zudem fehlt vielen Ökonomen das historische und ideengeschichtliche Wissen - sie stehen so im Hier und Jetzt, im "System", dass sie gar nicht auf die Idee kämen, die Fragen aufzuwerfen, die Wagenknecht aufwirft.

Auf Seite 2: Um welche Themen es geht





"Reichtum ohne Gier" kreist um ähnliche Themen wie "Freiheit statt Kapitalismus" und analysiert vor allem vier davon tiefer:

1. der Abstieg der Mittelschicht, die neuen Klassengesellschaft und die leistungsfreien Einkommen der Reichen,

2. die Verdrängung der Markt- durch eine Macht- und Beutewirtschaft,

3. unser Finanzsystem und

4. unsere Eigentumsordnung. Wer Freiheit statt Kapitalismus gelesen hat, wird einiges wiederentdecken, aber auch mit vielen neuen Aspekten konfrontiert.

Das Kapitel über die zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung und die neuen Kapitaldynastien beschreibt die bittere Realität knapp und zutreffend. "Die reichsten 1 Prozent der Weltbevölkerung besitzen inzwischen mehr als alle anderen auf der Erde lebenden Menschen zusammen." Mit den neuen Superreichen hat sich eine Klasse mit leistungslosem Einkommen gebildet, die oftmals auch über dem Recht stehen, weil sie sich international hinter Stiftungen verstecken und selber kaum in Erscheinung treten. Die Mittelschicht schrumpft rapide.

Ökonomische Sicherheit für ein menschenwürdiges Leben haben auch in Deutschland immer weniger. Erschreckend, wie unsere derzeitige Wirtschaftsordnung vor allem die Reichen zu Lasten der Mittelschicht schützt. Mit prägnanten Beispielen belegt Wagenknecht das. "Die Oberschicht sitzt im Penthouse, hat die Fahrstühle außer Betrieb gesetzt und die Leitern hochgezogen. Der Rest kann froh sein, wenn er wenigstens auf seiner Etage bleiben darf." Da kann man schon einmal zum Sozialisten werden. Wer glaubt, dass Wagenknecht als linke Politikerin zu dick aufträgt, sei auf die Bücher von Hans Jürgen Krysmanski und Chrystia Freeland und den OXFAM-Bericht im Internet verwiesen.

In "Räuberbarone und Tycoons - Macht statt Wettbewerb" analysiert Wagenknecht einen Trend, den ich selber gerne mit den Worten "von der Markt- zur Machtwirtschaft" umschreibe. Viele Bereiche des Wirtschaftslebens sind mittlerweile von mächtigen Oligopolen beherrscht, die ihre eigenen Interessen massiv verteidigen und den Wettbewerb soweit wie möglich ausschalten. Die Oligopole nutzen ihre Marktmacht auch, um Innovationen zu verhindern und die Qualität zu senken. So wird eine Vielzahl von Patenten heute vor allem deswegen angemeldet, um potentiellen Konkurrenten das Leben schwer zu machen, nicht etwa, um neue Produkte und Verfahren auf den Markt zu bringen.

In "Was macht uns reich" sinniert Wagenknecht darüber, dass in der Geschichte immer wieder blü- hende Wirtschaften zugrunde gegangen sind, wenn die Wirtschaftsordnung nicht mehr gestimmt hat. Wagenknecht reißt die Theorie der Institutionen nach Mancor Olson an, die Pflichtlektüre für heutige Ökonomen sein sollte, aber leider nicht ist.

Intensiv befasst ich Wagenknecht mit unserem heutigen, innovationsfeindlichen und oberschichtenfreundlichen Banken- und Finanzsystem. Die Idee des Vollgeldes verwirft sie als nicht ausreichend. Tatsächlich ist eine Vielzahl von kleineren Schritten notwendig, um das Finanzsystem wettbewerbsorientiert, mittelstands- und bürgerfreundlich zu machen.

Im letzten Kapitel "Eigentum neu Denken" befasst sich Wagenknecht mit der Eigentumsordnung. Für mich ist das fast das spannendste Kapitel des Buchs. Art. 14 unseres Grundgesetzes führt aus: "(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Der moderne Kapitalismus setzt Eigentum absolut. Es begründet vor allem Rechte. Davon ist im Grundgesetz nicht zu lesen - in Gegenteil: Eigentum hatte dort ausdrücklich eine Sozialbindung, das heißt, es darf gegen Entschädigung per Gesetz enteignet werden und es dürfen dem Eigentum soziale Pflichten auferlegt werden.

Ein besonderes Problem ist bei Kapitalgesellschaft die Trennung von Haftung und Eigentum. So entstehen in der Oberschicht nicht nur leistungs- sondern auch haftungsfreie Einkommen.

Die Vorschläge zur Umgestaltung des Eigentums an Unternehmen sind durchaus bedenkenswert: eine Personengesellschaft gehört dem Unternehmer, der allerdings auch mit seinem Privatvermögen haftet. Das gibt es heute auch schon. Kapitalgesellschaften bis zu einer bestimmten Größe sollen demgegenüber den Mitarbeitern gehören und einen engen Unternehmenszweck haben. Das gibt es ebenfalls, wenn auch nur gelegentlich. So ist zum Bespiel DER SPIEGEL weitgehend in der Hand seiner Mitarbeiter. Große Konzerne sollen als Öffentliche Gesellschaft mit einer starken Vertretung der Allgemeinheit im Aufsichtsrat geführt werden. Auch das gibt es ansatzweise - zum Beispiel bei Volkswagen. Dort hat es funktioniert, allerdings nicht besonders gut.

Auf Seite 3: Fazit





Insgesamt bietet das Buch einen tiefen Blick auf viele Probleme unserer Wirtschaftsordnung sowie etliche interessante und innovative Lösungsvorschläge. Es lädt dazu ein, manche Allgemeinplätze zu hinterfragen und die Voraussetzungen unserer Wirtschaft neu zu denken.

Man könnte dem Werk bei aller Prägnanz und Klarheit eine gewisse Rückwärtsgewandtheit vorwerfen, wenn man denn wollte. Wagenknecht stellt frühere Zustände als teilweise erstrebenswerter als unser heutiges System dar. So wird der Schlaf der australischen Ureinwohner dafür benutzt, zu zeigen, dass Produktivitätssteigerungen sich ja nicht unbedingt in mehr Produktion niederschlagen müssen, sondern auch mehr Schlaf zur Folge haben können. Und dass dies - undenkbar für bruttosozialproduktgläubige Ökonomen - ja durchaus wünschenswert sein könnte.

Ähnlichen Vorwürfen sahen sich allerdings auch schon die ordoliberalen Denker Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke ausgesetzt. Rüstow wollte den Liberalismus auf Basis einer umfassenden Kulturkritik neu bauen, Röpke sah die bürgerliche Schweiz mit ihren kleinen Dörfern und Arbeitern, die nebenbei noch etwas Landwirtschaft betrieben, als erstrebenswertes Ideal an. Rüstow, Erhard und Walter Eucken werden im Übrigen in den Quellen des Buches aufgeführt, Karl Marx nicht.

"Maß und Mitte" - so der Titel eines Buch Röpkes - sind Begriffe, zu denen unsere Zeit jeden Bezug verloren zu haben scheint. Und so scheint auch das Buch Wagenknechts einerseits wie aus der Zeit gefallen und andererseits aktueller und dringender denn je.

Noch reden wir von "Sozialer Marktwirtschaft". Ein menschenwürdiges Leben und die Eindämmung der Macht der Konzerne waren zwei Grundpfeiler dieses Konzepts. Tatsache ist, dass sich unsere Wirtschaftsordnung immer weiter von einer fairen, innovativen und wettbewerbsorientierten Wirtschaft, wie sie Ludwig Erhard vorschwebte, entfernt hat. Pay-Pal-Gründer und Silicon-Valley Milliardär Peter Thiel wird im Buch mit folgender Äußerung zitiert: "Tatsächlich ist Kapitalismus das Gegenteil von Wettbewerb. Kapitalismus basiert auf der Akkumulation von Kapital, doch im perfekten Wettbewerb fallen sämtliche Gewinne dem Konkurrenzkampf zum Opfer. (...) Wettbewerb und Kapitalismus sind ein Widerspruch."

Vielleicht brauchen wir eine Politikerin der Linken, um uns über die Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft aufzuklären und um Vorschläge zu bekommen, wie wir eine solche Wirtschaftsordnung (wieder) gestalten können. Sahra Wagenknecht = Soziale Markwirtschaft? Einige Vorschläge gehen sicher zu weit, und manche sind noch nicht komplett zu Ende gedacht. Aber im Buch steht deutlich mehr von dem, was umgesetzt werden müsste, als was zu verwerfen wäre.

Prof. Dr. Max Otte ist Herausgeber des wöchentlichen Börsenbriefes DER PRIVATINVESTOR (www.privatinvestor.de) und Gründer sowie Hauptgesellschafter der IFVE Institut für Vermögensentwicklung GmbH.