Und die Corona-Krise hat Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina in so große Not gestürzt, dass die Länder mangels europäischer Hilfe begierig jede andere Unterstützung annahmen. Mit einiger Zeitverzögerung und notgedrungen geht die EU nun aber in die Offensive.
"Deshalb war es gut, dass der lange geplante EU-Westbalkan-Gipfel am Mittwoch trotz Corona-Krise stattfand - wenn auch nur virtuell", sagt der Balkan-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Milan Nic. Der Gipfel war zwar in der Wahrnehmung der EU-Öffentlichkeit angesichts der Corona-Krise nur eine Fußnote - nicht aber bei den sechs EU-Beitrittsaspiranten. "Wir brauchen die Stabilität in der Region für ganz Europa", wird in deutschen Regierungskreisen mit Nachdruck betont. Kanzlerin Angela Merkel hatte sich deshalb nach Angaben aus Regierungskreisen sehr dafür eingesetzt, dass dieser Gipfel unter kroatischer EU-Präsidentschaft stattfand.
Das Bundeskabinett beschloss deshalb am Mittwoch auch die Fortsetzung der deutschen Beteiligung der Kfor-Mission im Kosovo. Denn nach Angaben einer Regierungssprecherin wird die Lage zwar derzeit als ruhig eingeschätzt. Es drohe aber jederzeit eine Eskalation. Auch Nic sieht große Probleme auf die Region und Europa zurollen. "In etlichen Ländern der Region sind Wahlen wegen Corona verschoben worden - das birgt das Risiko zu politischem Chaos", warnt er. Als Beispiel nennt er etwa Nordmazedonien, wo die für den 12. April geplante Parlamentswahl auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.
Das Problem: Die EU war sich lange nicht einig, wie sie mit den sechs Ländern umgehen soll. Frankreich und die Niederlande verhinderten im vergangenen Jahr, dass die zugesagten EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien beschlossen werden konnten. Das wurde zwar nun im März nachgeholt - aber es findet sich nicht einmal ein Hinweis auf diese für die beiden Staaten sehr wichtige Entscheidung in der Abschlusserklärung des EU-Westbalkan-Gipfels. "Das zeigt nur, wie uneins die EU auch heute noch ist", kritisiert DGAP-Experte Nic.
"DAS WAR ÜBERFÄLLIG"
Nun versucht die EU ein Abdriften der Staaten etwa nach Osten mit erheblichem finanziellen Einsatz zu verhindern. Europa habe der Region Hilfen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro zugesagt, betonten etliche EU-Regierungen. Allein 400 Millionen Euro sind davon nach Angaben des Auswärtigen Amtes für die Verbesserung der Gesundheitssysteme bestimmt. Das ist nach Angaben aus Regierungskreisen weit mehr als China oder Russland zur Verfügung stellen könnten oder wollten. "Unsere erste Aufgabe ist es, Corona gemeinsam zu besiegen", twitterte EU-Ratspräsident Charles Michel am Mittwoch.
DGAP-Experte Nic hält eine wirkliche Abkehr von der EU ohnehin für unwahrscheinlich. "Tatsächlich führt die schwere Wirtschaftskrise auf dem Westbalkan nur dazu, dass die Abhängigkeit der Staaten von der EU noch weiter wächst." Nur beseitigt dies die Probleme nicht. Denn die EU habe in der Corona-Krise wichtige Sympathien in der Bevölkerung verspielt, meint Nic. Er verweist darauf, wie offensiv China und Russland im März medizinisches Personal und Ausrüstung nach Serbien und Bosnien geschickt hätten - und wie willkommen dies dort aufgenommen worden sei, gerade weil die EU-Staaten sich lange nur um sich kümmerten. Erst vor wenigen Tagen hatte die EU entschieden, dass die Beitrittskandidaten auch von der gemeinsamen Einkaufspolitik der EU für Medizingüter profitieren können. Serbiens Präsident Vucic habe sich für EU-Hilfe bedankt, sagt ein EU-Diplomat.
Auch an einem anderen Punkt will die EU nun aus der Defensive wieder in die Offensive kommen. Die EU ernannte einen Beauftragten für die Beziehungen zwischen Serbien und der ehemaligen serbischen Provinz Kosovo. "Das war überfällig", sagt DGAP-Experte Nic und verweist darauf, dass zwischenzeitlich vor allem die USA in der Region aktiver geworden seien. Die Bemühungen der US-Regierung um eine Lösung des Konflikts zwischen beiden Staaten wurden aber in Berlin, Paris und Brüssel nicht immer als hilfreich empfunden. So hatte etwa der frühere US-Sicherheitsberater John Bolton einen Gebietstausch zwischen Serbien und Kosovo propagiert und damit die Versöhnungsgespräche nach Einschätzung von EU-Diplomaten um Monate zurückgeworfen. Und dem US-Sonderbeauftragten und Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, wurde im Kosovo sogar vorgeworfen, sich in die Innenpolitik eingemischt und die Absetzung eines unliebsamen Ministerpräsidenten befördert zu haben - was die US-Regierung vehement bestreitet.
rtr