BOERSE-ONLINE.de: Nach ersten Hochrechnungen liegt noch kein Kandidat klar vorn. Bevor Arizona und Pennsylvania nicht ausgezählt sind, wird auch kein klares Ergebnis erwartet. Was bedeutet das für die Börsen?
Timo Emden: Die Befürchtung ist wahr geworden, dass sich die Anleger einen Tag nach der US-Wahl mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen auseinandersetzen müssen und zunächst kein eindeutiger Gewinner feststeht. Das Zünglein an der Waage dürfte das Ringen um die besonders umkämpften Swing States und nicht zuletzt die Briefwahl sein. Die Investoren könnten im Hinblick auf ein endgültiges Wahlergebnis einer Geduldsprobe unterzogen werden. Im Falle einer knappen Wahlniederlage könnte Donald Trump seine jüngsten Drohungen wahr werden lassen und das Ergebnis anfechten. Für die Börsen bleibt nach wie vor entscheidend, dass zeitnah ein Gewinner bekanntgeben wird und eine politische Hängepartie ausbleibt.
Auf Basis vorangegangener Umfragen hätte man von einem klaren Sieg Bidens ausgehen können. Eindeutig ist bis jetzt allerdings nichts. War Biden nicht einnehmend genug, sondern am Ende doch nur "nicht Trump"?
Wieder einmal wurde eindrucksvoll bewiesen, dass Umfragen im Vorfeld für die Börsen am Ende des Tages nahezu "wertlos" sind. Im Hinblick auf die US-Wahl bleibt für die Anleger weiter entscheidend, ob sich Trump im Falle einer Wahlniederlage als schlechter Verlierer zeigt und seinen Worten Taten folgen lässt. Mehrfach hatte er im Vorfeld betont, dass die Wahlen bei einem Sieg Bidens manipuliert sein könnten. Es ist nicht auszuschließen, dass die Märkte ein Déjà-vu wie im Jahr 2000 erleben werden. Damals stand erst einige Wochen nach der Wahl der Sieger zwischen George W. Bush und Al Gore fest. Sollte die Wahl vor dem Supreme Court entschieden werden müssen, dürfte diese schwelende Unsicherheit Belastungspotential für die Märkte schüren.
Präsident Trump zweifelt an der Sicherheit der Briefwahl und befürchtet Wahlfälschung durch die Demokraten. Wie sieht das Worst-Case-Szenario aus, falls Trump die Wahl nicht gewinnt?
Im schlimmsten Fall dürfte Donald Trump seinen Worten Taten folgen lassen und vor das höchste US-Gericht, den Supreme Court, ziehen, um einen Wahlsieg mit juristischen Mitteln zu erzwingen. Dies dürfte nicht zuletzt für einen faden Beigeschmack sorgen. Dieses Szenario könnte die Märkte für mehrere Wochen oder gar Monate verunsichern. Das dürfte Anleger im Hinblick auf eine mögliche Jahresendrally überwiegend von Engagements an den Aktienmärkten abhalten, sodass eine kräftigere Korrektur wahrscheinlich ist, bis ein Sieger feststeht.
Bis auch die Briefwahlstimmen ausgezählt sind, können noch einige Tage vergehen. Was bedeutet diese Unsicherheit für die Börsen?
Die Anleger dürften sich in beide Richtungen nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen und tendenziell die Füße stillhalten. Verzweiflungskäufe beziehungsweise panische Verkäufe halte ich für weniger wahrscheinlich. Sollte sich ein endgültiges Ergebnis aber länger hinziehen als angenommen, könnte dies nicht zuletzt für kalte Füße unter Marktteilnehmern sorgen. Die Anleger lechzen nach wie vor nach dem US-Hilfspaket und dürften weitere signifikante Verzögerungen mit Verkäufen quittieren.
Falls Biden gewinnt: Wie würden Sie sich wünschen, dass seine erste Amtshandlung in Bezug auf Europa aussehen würde?
Wichtig für die Eurozone ist, dass Biden sich in Bezug auf die Verhandlungsbereitschaft gegenüber Brüssel offener zeigt als Donald Trump und die USA wieder enger mit der Europäischen Union zusammenrücken. Ein erster Ansatz könnte die gemeinsame Bekämpfung des grassierenden Coronavirus sein, wonach wirtschaftliche Interessen hintenangestellt werden sollten.
Wie schätzen Sie die möglichen negativen Folgen für die europäischen und deutschen Exportunternehmen ein? Und was bedeutet das für die Aktienkurse der deutschen Exportunternehmen?
Im Falle eines Wahlsieges von Trump dürfte eine Exportnation wie die Bundesrepublik nach wie vor im Kreuzfeuer des Präsidenten stehen. Trump dürfte weiterhin versuchen, die heimische Konjunktur und den Arbeitsmarkt zu stärken. Vorstellbar wäre ein neues Aufflammen des schwelenden Handelsstreits mit der EU und auch mit China. Strafzölle wären womöglich nur eine Frage der Zeit. Das würde alte Sorgen hervorrufen und die Märkte am Ende des Tages auch wieder beschäftigen.
Was würde es für Europa bedeuten, wenn sich die Wahl noch Monate hinzieht und sich die USA praktisch nur mit sich selbst beschäftigen?
Die US-Präsidentschaftswahl dürfte auch in diesem Fall ein zentrales Thema bleiben. Doch Unruheherde wie die Corona-Pandemie oder aber eben auch der Brexit wären dann wieder Themen, die verstärkt in den Vordergrund rücken könnten. Eine politische Hängepartie in der US-Präsidentschaftswahl dürfte viele strategische Entscheidungen der heimischen Unternehmen verzögern. Dieser Unsicherheitsfaktor vermag viele Anleger davon abzuhalten, Kaufentscheidungen zu treffen.
Was bedeuten die Verzögerungen für die milliardenschweren Corona-Konjunkturprogramme in den USA, die eigentlich so rasch wie möglich gestartet werden müssten?
Die Anleger werden auf eine große Geduldsprobe gestellt, sind aber weiterhin überwiegend davon überzeugt, dass es letztendlich zu einem Corona-Konjunkturprogramm kommen wird. Zu vielen Teilen dürfte dies schon eingepreist sein. Doch die Geduld sollte hier auch nicht zu stark strapaziert werden. Weitere Verzögerungen oder gar eine Absage des Pakets dürfte zu größeren Verwerfungen an den globalen Finanzmärkten führen.
Die amerikanische Gesellschaft gilt als gespalten. Kann eine neue Präsidentschaft das ändern?
Durchaus. Doch vielmehr stellt sich aus meiner Sicht die Frage, ob Joe Biden dafür der geeignete Kandidat ist. Aktuell haben die USA zu sehr mit sich selbst zu kämpfen. Ob eine neue Präsidentschaft am Ende des Tages so viel ändern wird, bleibt abzuwarten. Bis die Wirkungen tatsächlich sichtbar werden, müssen erst einmal die Weichen neu gestellt werden.