Herr Höfert, wird 2015 ein neues Euro-Krisenjahr einschließlich eines Austritts Griechenlands nach den Wahlen am 25. Januar?
Nein, so weit wird es nicht kommen. Ich bin jedoch überzeugt, dass Alexis Tsipras’ Syriza-Partei die Wahlen gewinnen wird. Regieren wird sie aber sehr wahrscheinlich in einer Koalition. Die griechische Seite will verhandeln und keinesfalls die Eurozone verlassen. Und dass Griechenlands Staatsschulden mittelfristig wohl abgeschrieben werden müssen, ist Brüssels kleines, schmutziges Geheimnis.

Es gibt also keine Alternative zur Abschreibung der Schulden zulasten der anderen Euroländer?
Nein. Eine Verschuldungsquote von 180 Prozent bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt ist nicht tragbar. Solange es diese Last gibt, wird sich Griechenlands wirtschaftliche Situation nicht bessern, das steht fest.

Dennoch: Welche Folgen würde ein Euro-Austritt Griechenlands im Euroraum haben?
Viele Investoren und Finanzinstitute haben ihre Engagements in diesen Staaten stark reduziert und wiegen sich in Sicherheit. Sollte Griechenland tatsächlich austreten, kommt die Eurokrise mit voller Wucht zurück.

Spanier und Portugiesen scheinen die harten Reformen im Gegensatz zu den Griechen zu akzeptieren. Ist das tatsächlich so?
In Spanien gewinnt Podemos, eine ähnliche Partei wie Griechenlands Syriza, schnell Zuspruch. Ich bin überzeugt, dass in diesem Jahr die Politik in Europa massiven Einfluss auf die Kapitalmärkte haben wird. Nach Griechenland folgen die Wahlen in Großbritannien. Der wahrscheinliche Erfolg der Euro skeptischen UKIP-Partei macht die Frage über Großbritanniens Verbleib in der Europäischen Union brisant. In Frankreich werden die Sozialisten die Regionalwahlen krachend verlieren. Mit bis zu 40 Prozent der Wählerstimmen könnte die rechtspopulistische Front National Frankreichs stärkste Partei werden. Deshalb ist die politische Situation in Europa derzeit labil.

Die EZB hat die Krise in Europa also verschärft?
Nicht nur die nationalen Sparprogramme der Länder, sondern auch die restriktive Geldpolitik der EZB hat dazu beigetragen, dass die Eurozone 2013 in die Rezession rutschte und dass das Wirtschaftswachstum 2014 hinter den Prognosen blieb.

Die Fed hat während ihres Quantitative-Easing-Programms (QE) für knapp 4000 Milliarden Dollar US-Staatsanleihen und hypothekenbesicherte Schuldscheine gekauft. War das ein Erfolg?
Wenn man die Vereinigten Staaten heute mit der Eurozone vergleicht, dann ganz klar ja.

Warum hat ein ähnliches QE-Programm der japanischen Notenbank dort bisher nicht funktioniert?
Man kann erst einmal argumentieren: "abwarten". Aber dann muss man auch feststellen, dass Japan seit über zwei Jahrzehnten in der Deflation steckt, während die USA dies durch schnelles Agieren vermieden haben. Deshalb sind die Ausgangslagen beider Länder anders, und entsprechend wird eine ähnliche Geldpolitik nicht unbedingt zu ähnlichen Ergebnissen führen.

Auf Seite 2: Was der QE-Effekt für Europa bedeutet



In Japan haben sich die Kurse an den Aktienmärkten nach den Käufen der Zentralbank sei 2012 verdoppelt. Ist dieser QE-Effekt langfristig auch in Europa zu erwarten?
Erst einmal bin ich nicht sicher, was langfristig bedeutet. Sowohl in Japan als auch in den Vereinigten Staaten ist es meines Erachtens zu früh, um die Aussage zu wagen, die Aktienhausse sei permanent. Aber es ist schon so, dass quantitative Lockerungen bisher positiv auf alle Anlagekategorien gewirkt haben, also sowohl auf Aktien als auch Anleihen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass so ein europäisches Programm ähnliche Wirkungen erzielen sollte. Schafft man damit aber nicht, die europäische Wirtschaft permanent aus ihrer Misere zu ziehen, dann sollte auch dieser Effekt nicht permanent sein.

Nicht nur im Euroraum, auch in Deutschland ist die Inflationsrate inzwischen negativ. Das signalisiert sinkende Preise bei schwacher Nachfrage, also Deflation. Welchen Anteil an dieser konjunkturell negativen Entwicklung haben die niedrigen Ölpreise?
Das ist schwer zu sagen. In Deutschland ist das Wirtschaftswachstum intakt. Ein Problem ist die Deflation nur in Ländern, deren Wachstum durch die hohe Verschuldung der staatlichen und privaten Haushalte gebremst wird.

Wo bleibt jetzt der positive Effekt durch die Reformen, der das Abdriften der Euroländer in eine Deflation wie in Japan verhindert?
Die Voraussetzungen für diesen Effekt sind da. Die Sanierung der europäischen Banken, die Stresstests und zuletzt die Bankenunion sind jetzt abgeschlossen. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Kreditvergabe an Unternehmen in den kommenden Monaten, auch in der Peripheriezone des Euro, endlich anziehen wird.

Warum sollte das passieren?
Weil wir das in den USA, wo der Bankensektor nach der Bankenkrise sofort und konsequent in Stand gesetzt wurde, gesehen haben. Als dort die Bankensanierung vor etwa zweieinhalb Jahren abgeschlossen war, zog die Kreditvergabe wieder an. Das war das Signal dafür, dass die Wirtschaft des Landes zurück auf dem Weg zu nachhaltigem Wachstum ist.

Aus Ihrer Sicht dürften sich damit auch im Euroraum die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum gebessert haben?
Ja, aber mit der Einschränkung, dass Europa in dieser Entwicklung zweieinhalb Jahre hinter Amerika zurückliegt. Der schwache Euro und die günstigen Ölpreise sind jedoch eine Sonderkonjunktur für die Unternehmen. Trotz der politischen Risiken sollte 2015 deshalb im Euroraum ein Prozent Wirtschaftswachstum möglich sein.

Auf Seite 3: Konsum bedeutet Wirtschaftswachstum



Im Vergleich zu Amerika ist das ein bescheidenes Wachstum.
Sicher. Aber der Konsum im Euroraum ist weiter schwach. Die Exportquote, also jener Anteil, bei dem auch die Firmen dabei sind, die vom schwachen Euro und günstigem Öl profitieren, macht nur ein Fünftel der Wirtschaftskraft aus. Was für Amerika gültig ist - stärkeres Wirtschaftswachstum nur durch mehr Konsum -, gilt auch für Europa.

An der Wall Street läuft die Hausse nach Einschätzung von Experten jetzt schon außergewöhnlich lange.
Sicher sind Korrekturen jetzt wahrscheinlicher. Wenn es aber passiert, verbessern sich die Renditen aus meiner Sicht. Aktien sind nicht mehr günstig, aber Anleihen sind wesentlich teurer.

Immer wenn Anleger an der Wall Street die Aussicht auf eine Zinswende nervös macht, greift Fed-Chefin Janet Yellen bisher beschwichtigend ein. Wird die für 2015 erwartete Geldpolitik der US-Notenbank deshalb weniger restriktiv sein als erwartet?
Auf jeden Fall wird die Notenbank sehr behutsam vorgehen. Amerikas Wirtschaftswachstum ist solide und nachhaltig, die Arbeitslosenquote ist deutlich gesunken, die Kreditversorgung der Unternehmen hat sich erholt. Es wird für die Fed deshalb zunehmend schwieriger zu argumentieren, warum der Leitzins nicht erhöht werden soll. Mit einer weiteren Verzögerung könnte Yellen den Fehler von Ex-Fed-Chef Alan Greenspan aus dem Jahr 2006 wiederholen, als Greenspan die Zinsen trotz robuster Konjunktur sehr spät erhöhte. Die Fed wird deshalb die Zinsen spätestens im Sommer um 0,25 Basispunkte erhöhen. Auf Aktien wird das viel geringere Auswirkungen haben als erwartet.

Warum?
Beim ersten Schritt in einer Phase anvisierter Zinserhöhungen dauert es gewöhnlich Jahre, bevor der schrittweise Anstieg an den Börsen eine massive Korrektur auslöst. Die Zinsschritte signalisieren, dass es den Unternehmen besser geht. Erst auf dem Höhepunkt einer Expansion korrigieren die Aktienmärkte, meistens ausgelöst durch eine Überhitzung der Konjunktur.

Wo wäre der US-Leitzins bei einer weiteren Erhöhung der US-Wirtschaft in drei Jahren?
Der Zins reflektiert das nominale Wachstum der Wirtschaftsleistung. Wenn das reale Wachstum im Trend also bei zwei Prozent liegt und die Inflation gedämpft bei einem bis 1,5 Prozent, würde die US-Konjunktur in drei Jahren voraussichtlich auch einen Leitzins bei 3,5 Prozent verkraften. Zunächst wird die Fed aber bei 0,25 Prozent abwarten. Wenn das die Märkte und die Wirtschaft belastet, bleibt der Zins auf dem Niveau.

Welche Risiken werden unterschätzt?
Es ist schwer einzuschätzen, wie sich der Ölpreis entwickelt. Zwischen 40 bis 45 Dollar pro Barrel, in der Nähe des aktuellen Ölpreisniveaus, wird Russland tief in die Rezession rutschen. Die Frage ist, ab wann schadet ein fallender Ölpreis weiteren Ländern. Aktuell unterstützt günstiges Öl das Wachstum der Volkswirtschaften in vielen Ländern.

Erwarten Sie also keine Trendwende beim Ölpreis?
Frühestens in der zweiten Jahreshälfte. Einige der wichtigen Förderländer wie Russland, der Iran und Venezuela müssen ihre Fördermengen hoch halten, weil sie auf diese Einnahmen angewiesen sind. Saudi-Arabien könnte die Produktion drosseln. Das will das Land, dessen Ölproduktion 40 Prozent der OPEC-Kapazität ausmacht, allerdings nicht, um die amerikanischen Fracking-Firmen mit niedrigen Ölpreisen aus dem Markt zu drängen.

Trauen Sie Saudi-Arabien zu, das durchzuhalten?
Ja. Und alle anderen OPEC-Länder werden mit dem größten Mitglied auf Linie bleiben. Solange die OPEC ihre Fördermengen nicht drosselt, sinkt der Ölpreis weiter.

Auf Seite 4: Andreas Höfert im Profil



Andreas Höfert

Andreas Höfert wurde 2009 Chefökonom der Schweizer Großbank UBS. Der 47-jährige Volkswirt verantwortet auch die Analysen der Sparte Vermögensverwaltung und berät Bankkunden. Weltweit verwaltet die UBS rund 2000 Milliarden Euro. Höfert hat in St. Gallen promoviert und ist seit 1999 bei der UBS. Zuvor war der gebürtige Schweizer Konjunkturprognostiker an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Höfert lebt in Durham, North Carolina.