Mit einem Schlag ist alles anders. Aktienmärkte brechen in Rekordzeit ein, die Wirtschaft steht still. Schuld ist nichts von alledem, was Ökonomen vorausahnen konnten. Weder die lockere Geldpolitik der Zentralbanken noch die Schuldenberge von Staaten und Privathauhalten in vielen Nationen der Erde und schon gar keine geopolitischen Spannungen haben die aktuelle Krise ausgelöst.

Ein winziger Schädling, der von Wissenschaftlern wegen seiner Form den verniedlichenden Namen "Corona" erhielt, schickt sich an, eine weltweite Rezession auszulösen, gegen die der Konjunktureinbruch während der Finanzkrise 2008/09 ein laues Lüftchen war. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron spricht vom Krieg gegen einen unsichtbaren Feind, Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich in häusliche Quarantäne begeben, da sie sich mit dem Virus infiziert haben könnte. Die Frage, wie lange die Ausnahmesituation mit Ausgangsbeschränkungen, geschlossenen Grenzen und Produktionsstätten andauern wird, ist die unbekannte Größe in allen Prognosen, die sich damit beschäftigen, wie stark die Wirtschaft schrumpfen wird.

Der Blick richtet sich auf 2021

In solch einem Umfeld Gewinnschätzungen abzugeben ist eine heikle Aufgabe. Traditionell stellt BÖRSE ONLINE die Gewinnschätzungen zum Ende des ersten Quartals auf das Folgejahr um. Da an der Börse die Zukunft gehandelt wird, blicken Investoren meist frühzeitig ein Jahr nach vorn. Erfahrungsgemäß ist das der Fall, wenn anlässlich von Hauptversammlungen und Bilanzpressekonferenzen die Geschäftsberichte des Vorjahres veröffentlicht werden, die - zumindest in normalen Zeiten - auch mit dezidierten Ausblicken verbunden sind. Zwar geben die Manager meist nur Prognosen fürs laufende Jahr ab, doch Analysten leiten daraus oft schon Tendenzen für Geschäftsperioden ab, die weiter in der Zukunft liegen.

Die Redaktion von BÖRSE ONLINE ist da keine Ausnahme. Da für viele Aktien unterhalb von DAX, MDAX und SDAX keine aussagekräftigen Gewinnprognosen von Banken und Analystenhäusern vorliegen, nimmt die Redaktion die Schätzungen für einige Hundert deutsche Nebenwerte selbst vor. Das war noch nie so schwierig wie in den zurückliegenden Wochen, in denen sich die Ereignisse förmlich überschlugen. Andererseits ist es eine dankbarere Aufgabe, im aktuellen Umfeld Schätzungen für 2021 abzugeben als fürs laufende Jahr (wobei diese teilweise auch deutlich reduziert wurden). Die Schätzungen für 2020 sind mit mehr Fragezeichen behaftet als die für 2021, weil niemand weiß, wann die Konjunktur wieder auf Wachstumskurs einschwenken wird.

Wir haben unterstellt, dass sich die Situation - ähnlich wie in China - nach drei bis vier Monaten normalisiert und sich die Wogen bis 2021 wieder glätten werden. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen:

Im Idealszenario werden Ende des Jahres erste Medikamente gegen die durch das Coronavirus verursachte Krankheit Covid-19 auf den Markt kommen und Impfstoffe entwickelt sein. Ab diesem Zeitpunkt sollte zumindest wirtschaftlich alles wieder ins Lot kommen. Nachholeffekte könnten sogar für einen Aufschwung auf breiter Front sorgen.

Auch wenn kein Impfstoff gefunden wird, ist es weder der Bevölkerung noch der Wirtschaft zuzumuten, die Situation des Stillstands bis in den Sommer hinein aufrechtzuerhalten. Um eine Pleitewelle zu verhindern, muss das öffentliche Leben schnellstmöglich wieder anlaufen, sobald die Covid-19-Fallzahlen eingedämmt sind. An Mindestabstände und möglicherweise dann wieder verfügbare Atemschutzmasken wird sich die Bevölkerung dann gewöhnen müssen.

Staaten und Zentralbanken pumpen ungeheure Summen in den Wirtschaftskreislauf, um eine lang anhaltende Depression abzuwenden. US-Präsident Donald Trump will den Konsum mit Helikoptergeld ankurbeln, die EZB hat bereits vor Wochenfrist ein 750 Milliarden Euro schweres Notprogramm beschlossen, die Bundesregierung will eine Billion Euro bereitstellen, um Kurzarbeit und Beihilfen für Betriebe zu finanzieren.

Ob diese Szenarien tatsächlich aufgehen, ist die nächste Unbekannte in jedem Prognoseversuch. Würden wir den Worst Case zugrunde legen, müssten wir zum Verkauf aller Aktien und zum Horten von Bargeld raten. Doch Fluchtstrategien waren nach einem so starken Einbruch wie dem der vergangenen vier Wochen stets der falsche Weg. Selbst in der Finanzkrise nach der Insolvenz von Lehman Brothers im Herbst 2008 wurde der Grundstein für die längste Börsenhausse aller Zeiten bereits im Frühjahr 2009 gelegt.

Keine Hitlisten

Wegen der Unsicherheit, die mit Gewinnprognosen derzeit verbunden ist, verzichtet BÖRSE ONLINE im Unterschied zu früheren Jahren auf Ranglisten mit den höchsten erwarteten Gewinnzuwächsen, denn die Ertragslage der Unternehmen kann sich quasi täglich ändern. Ganz oben zu finden sind ohnehin Gesellschaften in Sondersituationen. Mit einem Gewinnplus von 4360 Prozent wäre Leoni der Spitzenreiter im Gesamtklassement, gefolgt von Osram (2725), Turbon (1100), EQS Group (942), Salzgitter (900) und Lloyd Fonds (800). Im DAX hätte die Deutsche Bank mit einer Gewinnsteigerung von 293 Prozent die Nase vorn. Das basiert aber eben auf der Annahme sehr schwacher 2020er-Zahlen bei den betroffenen Unternehmen. Sollten die Schätzungen fürs laufende Jahr nach oben korrigiert werden, fiele das Gewinnplus geringer aus.

Im umgekehrten, weniger wünschenswerten Fall würden die Ergebnisse 2020 deutlich schwächer ausfallen als erwartet und 2021 etwas schlechter. Unterm Strich wäre die Gewinnsteigerung aber höher, obwohl die Firma insgesamt schlechter dasteht. In unseren Empfehlungen auf den Folgeseiten haben wir uns deshalb auf Unternehmen konzentriert, deren Gewinne auch in der Krise planbar erscheinen.

DAX: Nur wenige sind immun gegen das Virus


Spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Krise ist klar geworden, wie visionär das Sokrates-Zitat "Ich weiß, dass ich nichts weiß" wirklich war. Sämtliche für 2020 abgegebenen Prognosen und Schätzungen sind Stochern im Nebel. Je nachdem wie lange das Virus die Weltwirtschaft lahmlegen wird, müssen sie wohl noch korrigiert werden. Leider wahrscheinlich nach unten.

Bislang gehen Analysten lediglich bei der Deutschen Bank von einem Verlust aus, und zwar in Höhe von 29 Cent je Aktie. Da für 2021 wieder ein positives Ergebnis unterstellt wird, führt das größte deutsche Geldhaus die Rangliste der DAX-Werte mit der höchsten Gewinnsteigerung von 2020 auf 2021 mit einem riesigen Vorsprung an. Um 293 Prozent soll der Ertrag wachsen. Da jedoch niemand weiß, ob nicht auch Lufthansa, Chemie- und Autowerte im laufenden Jahr in die roten Zahlen rutschen, ist der Deutschen Bank der Spitzenrang in dieser Kategorie keineswegs sicher. Ganz davon abgesehen, dass es kein sonderlich gutes Kriterium für die Aktienauswahl ist, auf Unternehmen zu setzen, die 2020 besonders schlecht dastehen, damit die Steigerungsrate im darauffolgenden Jahr extrem gut aussieht.

Wer auf hohe Gewinnsteigerungen setzt, sollte sich zumindest bis zum Ende der Krise auf Firmen konzentrieren, deren Geschäftsmodelle sich in der Vergangenheit als wenig konjunkturabhängig erwiesen haben und die seit Jahren wachsende Erträge verzeichnen. Der Pharmakonzern Merck und der Softwaregigant SAP, der sein Geschäft mehr und mehr in die Cloud verlagert und damit die Arbeitswelt flexibilisiert, düften den Gewinn um jeweils gut 57 Prozent steigern. Da kann die Deutsche Telekom mit einem Gewinnplus von 24,5 Prozent zwar nicht ganz mithalten, dafür könnte der ehemalige Staatskonzern aber von Ausgangssperren und Reiseverboten profitieren, weil Telefon- und Internetnutzung steigen dürften.

MDax: Aussichtsreiche Mittelständler


Bereinigt um Verlustausweise und Turnarounds werden die Gewinne im MDAX im Jahr 2021 aus heutiger Sicht um 17,6 Prozent anziehen. Das klingt ganz ordentlich, auch wenn die Prognose natürlich noch mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Über vielen Branchen wie der Chemie- oder Autoindustrie stehen große Fragezeichen. Doch gibt es auch jene Mittelständler, die die aktuelle Krise besser bewältigen können, womit deren Prognose auf stabileren Beinen steht.

Dazu zählt Qiagen. Die Diagnostikfirma verfügt über eine vollautomatische Plattform, mit deren Hilfe sich 21 verschiedene Erreger für Atemwegserkrankungen, darunter auch vier Coronaviren, identifizieren lassen. Das könnte nicht nur Rückenwind für das operative Geschäft bedeuten, sondern auch für den Aktienkurs. Angesichts der Hoffnung auf hohe Umsätze zählt die Qiagen-Aktie zu den wenigen Papieren, die trotz des Crashs seit Jahresbeginn im Plus notieren.

Wie man Notlagen meistern kann, zeigte Cancom in der Finanzkrise. Einzig 2008 ging der Gewinn kurz zurück, ein Jahr später gelang es dem IT-Dienstleister bereits, das Vorkrisenniveau zu übertreffen. Insbesondere die Ausrichtung auf das Zukunftsthema Cloud dürfte dem Konzern derzeit in die Hände spielen. "Der strategische Übergang von einem IT-Systemhaus zu einem Serviceprovider bietet Chancen auf eine langfristig steigende Profitabilität", glaubt etwa DZ-Bank-Analyst Armin Kremser. Der Analystenkonsens geht davon aus, dass der Gewinn je Aktie 2021 um 37 Prozent anziehen wird.

Ebenfalls eine hohe Stabilität in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zeigt das Geschäft von Carl Zeiss Meditec. Das auf Augenheilkunde spezialisierte Unternehmen profitiert vom weltweit steigenden Gesundheitsbewusstsein.

SDax: Sprudelnde Gewinne


Klammert man die Basiseffekte bei Salzgitter und Klöckner aus, wäre Hellofresh mit einem Gewinnplus von 181 Prozent im SDAX der Wachstumsspitzenreiter. Doch mit der Beförderung in den MDAX am 23. März hat der Essenslieferant das Small-Cap-Segment auch schon wieder verlassen. Zum Zeitpunkt unserer Auswertung war er aber dort noch gelistet. Während das Gros der Aktien derzeit crasht, klettert der Kurs von Hellofresh stetig aufwärts. Um knapp 30 Prozent legte der Titel seit Silvester zu. Die Geschäfte laufen gut: Für 2020 rechnet das Management mit einem Umsatzwachstum von 22 bis 27 Prozent bei gleichzeitig steigender Profitabilität. Die bereinigte Ebitda-Marge soll von 2,6 Prozent im Jahr 2019 auf 4,0 bis 5,5 Prozent steigen. Von Krise ist bei den Berlinern operativ nichts zu sehen.

Übermäßig abgestraft wurde in den vergangenen Wochen dagegen New Work. Das Karrierenetzwerk büßte seit Anfang Februar 43 Prozent an Wert ein. Dabei sieht die Internetplattform in der Coronakrise keine große Beeinträchtigung. Für das laufende Jahr prognostiziert die Firma einen Erlösanstieg auf 300 Millionen Euro, das bereinigte Ebitda soll auf 100 Millionen Euro zunehmen. Unter dem Strich geht der Markt derzeit von einem Gewinnplus von 15 Prozent aus, 2021 sollen es dann sogar 26 Prozent sein.

Auch bei Krones dürfte die Ergebniskurve 2021 wieder nach oben zeigen. Im laufenden Jahr könnte es jedoch zu spürbaren Einbußen kommen. Laut Management sind die Aussichten derzeit nicht "seriös einzuschätzen". Mittel- bis langfristig blickt der Konzern aber unverändert positiv in die Zukunft, da die Nachfrage nach abgepackten Getränken und flüssigen Lebensmitteln weltweit weiter wachsen wird. Selbst in der aktuellen Krise zeigt sich in Teilbereichen wie Milch, Wasser und Softdrinks eine Art Sonderkonjunktur. Krones ist ein Qualitätstitel, der mittlerweile sehr günstig bewertet ist.

Small Caps: Klein, aber oho


Die Corona-Krise stellt vor allem kleine Firmen vor große Herausforderungen. Oft fehlen ihnen die nötigen finanziellen Rücklagen, um einen wochenlangen Shutdown zu überstehen. Wir haben uns im Nebenwertebereich daher vor allem nach Unternehmen umgesehen, die von der Pandemie weitgehend verschont bleiben. Dazu gehört OHB. Der Satellitenbauer räumt zwar ein, dass es möglicherweise zu Verzögerungen bei Projekten kommen könnte, blickt aber zuversichtlich nach vorn. "Wir haben nicht die Sorge, dass die Aufträge wegbrechen, sondern erwarten eine Welle von Auftragseingängen", sagt Marco Fuchs. Für 2020 erwartet der OHB-Chef ein Eingangsvolumen in Höhe von zwei Milliarden Euro. Auch für die kommenden Jahre hat sich der Konzern viel vorgenommen. "Die Welt nach der Coronavirus-Krise wird digitaler werden", meint Fuchs. Bis 2025 soll sich das Ebit auf 120 Millionen Euro mehr als verdoppeln.

Auch bei Vita 34 in Leipzig stehen die Zeichen auf Wachstum. Für das laufende Jahr geht der Vorstand von einer positiven Umsatz- und Ergebnisentwicklung aus und wird Ende März eine genaue Prognose abgeben. "Da das Geschäftsmodell von Vita 34 weitestgehend konjunkturunabhängig ist, dürften die Auswirkungen durch das Coronavirus gering sein", erklärt Montega-Analyst Henrik Markmann. Vor dem Hintergrund des erwarteten Wachstums erscheint der jüngste Kursrückgang überzogen.

Beim Hersteller von Blockheizkraftwerken 2G Energy halten wir das aktuelle Kursniveau für sehr attraktiv. Dass die Wasserstoff-Blockheizkraftwerke oder auch Erdgas-KWK-Anlagen weiterhin gefragt sind, zeigt die Ende Februar leicht erhöhte Prognose des Vorstands. Der Umsatz soll in diesem Jahr auf 235 bis 250 (zuvor 230 bis 250) Millionen Euro ansteigen.