von Matthias Wissmann*

Ganz Europa schaut am 23. Juni nach Großbritannien: Dann stimmen die Briten darüber ab, ob das Land weiterhin EU-Mitglied sein soll - oder aus der EU austritt (Brexit). Das Ergebnis wird für den nächsten Tag erwartet. Umfragen zeigen bislang ein Kopf-an-Kopf-Rennen, Londoner Wettbüros hingegen sehen eher größere Chancen für den Verbleib in der EU.

Keine Frage, die Debatte wird hoch emotional geführt. EU-Kommissionspräsident Juncker hat es so formuliert: "Die Briten reden über die Folgen eines Brexit, als sei es eine Katastrophe oder das Gegenteil."

Viel Psychologie ist im Spiel: Je düsterer Politiker und Experten die politischen und wirtschaftlichen Folgen eines Brexit an die Wand malen, desto mehr wird dies von vielen Briten als "Panikmache" abgetan. Es ist daher höchste Zeit, wieder Sachargumente in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen. Und nüchtern zu prüfen, was ein Brexit-Votum für Großbritannien, die EU und Deutschland bedeuten würde. Vielmehr müssten zunächst Verhandlungen über den Austritt eingeleitet werden: UK auf der einen Seite des Tisches, der EU-Rat (ohne UK) und die EU-Kommission auf der anderen Seite. Das kann dauern. Nach zwei Jahren könnte Großbritannien auch ohne Verhandlungen aus der EU austreten.

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Lange Phase der Unsicherheit



Doch was dann? Die Vorstellung, dass ein dann notwendiges Freihandelsabkommen mit der EU zügig abgeschlossen werden könnte, wäre naiv. Es droht vielmehr eine lange Phase der Unsicherheit, ein "Jahrzehnt des Schwebezustands", wie es der britische Europaminister David Lidington ausdrückte.

Besonders bewegt die Briten derzeit die Einwanderung von EU-Bürgern. Doch die Freizügigkeit, die die EU all ihren Bürgern bietet, ist keine Einbahnstraße. Nach einem EU-Austritt könnte beispielsweise auch der junge Mann aus Manchester, der gerne nach Berlin ziehen will, das Recht auf freie Wohnsitzwahl auf dem Kontinent verlieren - sollte London Bürger aus anderen EU-Ländern zurückweisen.

Die britische Volkswirtschaft ist eng mit den anderen EU-Ländern verflochten: 44 Prozent aller Exporte aus UK gehen in die EU, 53 Prozent aller britischen Importe kommen aus der EU.

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Gegenseitige Abhängigkeit



Beispiel Pkw-Markt: Dieser erreichte 2015 mit gut 2,6 Mio. Einheiten ein neues Rekordniveau und ist in hohem Maße auf Importe angewiesen: 86 Prozent der Pkw-Neuzulassungen sind Autos, die nicht in Großbritannien produziert wurden. Ein Großteil davon kommt aus anderen EU-Ländern, knapp ein Drittel aller Neuwagen - 810.000 Einheiten - lief in Deutschland vom Band. Für die britischen Bürger würde der Autokauf bei einem Brexit sicher nicht preiswerter.

Im vergangenen Jahr produzierten die deutschen Automobilhersteller in Großbritannien rund 216.000 Pkw (+11 Prozent), im bisherigen Jahresverlauf gibt es ein Plus von 9 Prozent. Mit rund 100 Standorten sind deutsche Automobilunternehmen, darunter sehr viele Zulieferer, in Großbritannien vertreten. Seit 2010 hat sich die Zahl der Standorte um 30 Prozent erhöht.

Gleichzeitig ist UK aber auch exportstark: Von den knapp 1,6 Mio. Pkw, die 2015 in Großbritannien gefertigt wurden, gingen gut 1,2 Mio. Einheiten - also drei Viertel - in den Export. Die anderen EU-Ländern sind dabei Hauptabnehmer: Gut jedes zweite exportierte Auto (57 Prozent) fand dort seinen Käufer. Sollten auf beiden Seiten des Ärmelkanals wieder Zollschranken hochgezogen werden, würde diese Erfolgsstory sicherlich einen empfindlichen Dämpfer erhalten. Wer will das wirklich?

Aus größerer Perspektive gilt: Die EU wäre ohne Großbritannien schwächer - insbesondere im Dialog mit den USA oder China. Auch innerhalb der EU würden sich die Gewichte verschieben: Die marktwirtlich starke Stimme Londons würde schmerzlich fehlen, Berlin hätte einen noch schwereren Stand gegenüber anderen EU-Ländern, die nach einer "Transferunion mit Finanzausgleich" rufen. Zudem wäre ein Brexit für Großbritannien fatal: Es stünde isoliert einer EU gegenüber, die allein aufgrund ihrer Größe und der Zahl ihrer Mitgliedsländer ein viel höheres Gewicht aufweist. Und: London könnte nicht mehr mitreden, wenn es um EU-Standards geht.

Am 23. Juni steht also in der Tat viel auf dem Spiel. Als überzeugter Europäer vertraue ich darauf, dass die Vernunft siegen wird.

Zum Autor*

Matthias Wissmann (67) ist einer der profiliertesten Industrie-Vertreter in Berlin. Der gebürtige Schwabe steht seit Juni 2007 an der Spitze des Bundesverbands der Automobilindustrie (VDA).

Zuvor hatte der studierte Jurist in der Politik eine steile Karriere gemacht. So gehörte Wissmann zwischen 1975 und 2007 dem Bundesvorstand der CDU und war lange Jahre auch Chef der Jungen Union. Zudem war er rund fünf Jahre Bundesminister, zunächst für Forschung und Technologie, von Mai 1993 bis Oktober 1998 für Verkehr. Wissmann gilt in Berlin als bestens vernetzt und einflussreich.