Immer wieder kritisiert das Staatsoberhaupt die Regierung in Washington, weil sie den im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen vorerst nicht ausliefern will. Erdogan macht seinen Erzfeind für den gescheiterten Staatsstreich verantwortlich, was dieser bestreitet. Inmitten dieser Spannungen reist Erdogan am Dienstag nach St. Petersburg, um sich mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin zu treffen.
In westlichen Hauptstädten dürfte das Treffen aufmerksam verfolgt werden, auch wenn erst am Montag eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin erklärte, die Annäherung wirke sich nicht auf die Sicherheitspartnerschaft mit der Türkei in der Nato aus. Auch in Ankara bemüht man sich, den Eindruck zu zerstreuen, dass sich Erdogan von dem Bündnis oder der EU abwenden könnte. Bei dem Besuch gehe es nur um die Versöhnung mit Russland, die schon vor dem Putschversuch begonnen habe, heißt es in der Regierung.
Und doch sind Befürchtungen im Westen nach Meinung von Experten nicht unbegründet. "Erdogan kann durch das Treffen mit Putin den Partnern im Westen sicher deutlich machen, dass er auch andere strategische Optionen hat", sagt der frühere Diplomat Sinan Ülgen, der heute für das Carnegie-Institut in Brüssel arbeitet. Russland wiederum habe ein Interesse daran, die Krise auszunutzen und einen Keil in die Nato zu treiben.
Putin und Erdogan waren im vergangenen Jahr plötzlich zu erbitterten Rivalen geworden, als die Türkei ein russisches Kampfflugzeug nahe der syrischen Grenze abschoss. Den markigen Worten beider Politiker folgten schmerzliche Auswirkungen auf die Wirtschaft: Die Regierung in Moskau erließ Handelssanktionen und strich Charterflüge. Russische Touristen blieben aus. Doch nach einer Entschuldigung Erdogans im Juni dieses Jahres ist Tauwetter angesagt.
Es bleiben aber genügend Streitthemen, über die Erdogan und sein "Freund Wladimir" sprechen dürften, vor allem der Bürgerkrieg in Syrien. Während die russische Luftwaffe den Weg für Truppen von Staatschef Baschar al-Assad frei bombt, verlangt Erdogan schon lange dessen Absetzung und hilft Rebellen im Nachbarland. Und im Südkaukasus unterstützt die Türkei Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien, das mit Russland verbündet ist. Das Treffen zwischen Erdogan und Putin werde zeigen, wie weit der Kompromisswillen gehe, sagt der russische Politikexperte Andrej Kortunow, dessen Institut dem Moskauer Außenministerium nahesteht. "Die Frage ist, ob aus der taktischen Deeskalation eine tiefere strategische Partnerschaft erwächst."
RUSSISCH-TÜRKISCHE PIPELINE IM GESPRÄCH
Die Annäherung dürfte zumindest den Europäern auch mit Blick auf die Energieversorgung Bauchschmerzen bereiten. Hintergrund sind die Pläne für die Gasleitung TurkStream von Russland durch das Schwarze Meer in die Türkei. "Dafür gibt es keine Hindernisse", sagt Erdogan in einem Tass-Interview. Sollten die Pläne wirklich umgesetzt werden, könnte die Pipeline den EU-Plan durchkreuzen, von russischer Energie unabhängiger zu werden. Ohnehin schauen viele Europäer bange auf die Türkei, weil das Land bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine wichtige Rolle spielt. Mehrfach haben Erdogan und andere Politiker gedroht, das Abkommen darüber aufzukündigen.
Experten bezweifeln aber, dass die Türkei mit dem Westen bricht. Es sei unrealistisch, dass Russland eine strategische Alternative darstelle, sagt etwa Ex-Diplomat Ülgen. Das scheint noch mehr für das Verhältnis zu den USA zu gelten. So will Außenminister John Kerry Ende August in die Türkei reisen. Der frühere türkische Botschafter in Washington, Faruk Logoglu, bezweifelt, dass das Verhältnis zwischen den beiden Staaten langfristig beschädigt wird. "Das türkisch-amerikanische Verhältnis ist wie eine katholische Ehe: Es gibt keine Scheidung. Beide Seiten brauchen einander."
rtr