"Ihre Ausgangslage ist äußerst komfortabel", sagt Manfred Güllner, Chef des Forsa-Instituts. "Gute Konjunkturdaten nutzen meist der Regierung - es sei denn, sie ist fürchterlich schlecht."

Die wirtschaftliche Bilanz der von Merkel geführten Bundesregierung liest sich so:

- Die deutsche Wirtschaft steckt in einer ihren längsten Aufschwungphasen: Sie dürfte 2017 bereits das achte Jahr in Folge wachsen, ein Ende des Booms ist vorerst nicht in Sicht.

- Mit rund 2,5 Millionen registrierten Personen ist die Zahl der Arbeitslosen so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr, die Zahl der Beschäftigten liegt mit 44,1 Millionen auf einem Höchststand.

- Die Kaufkraft der Verbraucher ist drei Jahre in Folge gestiegen, weil die Löhne stärker kletterten als die Preise.

- Der Geschäftsklima-Index des Münchner Ifo-Instituts als wichtigster Frühindikator für die deutsche Wirtschaft erreichte im Juli den dritten Monat in Folge ein Rekordniveau.

- Das GfK-Konsumklima, das die Stimmung der Verbraucher misst, ist so gut wie seit 2001 nicht mehr. Ihre finanziellen Aussichten schätzen die Deutschen so positiv ein wie noch nie seit der Wiedervereinigung.

- Der Staat dürfte 2017 zum vierten Mal in Folge schwarze Zahlen schreiben.

Und mehr noch: Dank der robusten Konjunktur sind die Deutschen derzeit auch so zufrieden wie noch nie seit der Wiedervereinigung, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bei seiner seit 1984 jährlich erhobenen Umfrage herausfand. Die Wähler sehen angesichts dieser Bilanz offenbar keinen Grund, Merkel aus der Regierung zu drängen und durch ihren SPD-Herausforderer Martin Schulz zu ersetzen. Die jüngsten Umfragen sagen der CDU/CSU einen großen Vorsprung auf Koalitionspartner SPD voraus: Das Emnid-Institut sieht die Union derzeit bei 38 Prozent, die Sozialdemokraten bei 25. Bei Forsa ist der Abstand mit 40:22 sogar noch größer. Fährt die CDU-Chefin also den Lohn für ihre Wirtschaftspolitik ein?

Die meisten Experten sind sich einig, dass der Aufschwung nicht unbedingt mit Merkel zu tun hat. Für den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ist er vor allem "Doping" zu verdanken. "Die Wirtschaft profitiert schon lange Zeit von Sonderfaktoren wie Zinsen, Öl, Wechselkurs", sagt DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Die seit Jahren extrem niedrigen Zinsen, die Investitionen und den Konsum fördern, werden von der Europäischen Zentralbank (EZB) festgelegt, der Ölpreis an den Weltmärkten. Und der trotz des jüngsten Anstiegs aus deutscher Sicht vergleichsweise niedrige Euro-Kurs, der die Exporte begünstigt, ist Folge der EZB-Geldpolitik.

EHER SCHRÖDER ALS MERKEL



Die Basis für den Aufschwung hat zudem nicht Merkel, sondern ihr sozialdemokratischer Vorgänger Gerhard Schröder gelegt, wie die meisten Experten urteilen. Fast 90 Prozent von rund 130 Wirtschaftsprofessoren schreiben seiner "Agenda 2010" eine starke oder sehr starke Wirkung auf die günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt zu, wie aus einer Ifo-Umfrage hervorgeht. "Schröders Agenda 2010 wird reichlich Respekt gezollt", betont Niklas Potrafke, Leiter des Ifo-Zentrums für öffentliche Finanzen und politische Ökonomie.

Warum aber profitiert die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten nicht von der guten Lage, obwohl sie doch seit vier Jahren den Wirtschaftsminister stellt und von den Wählern mehrheitlich begrüßte Vorhaben wie den bundesweiten Mindestlohn durchgeboxt hat? "Der SPD wird traditionell bei wirtschaftspolitischen Themen wenig Kompetenz zugewiesen", erklärt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. "Der Union wird eher zugetraut, die Wirtschaft in Schwung zu bringen und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen."

Dass die SPD in den Umfragen so weit abgeschlagen ist, hängt aber auch damit zusammen, das ungeachtet des Dauer-Booms längst nicht alles Gold ist, was in Deutschland glänzt:

- Die Erwerbsarmut ist hier einer Studie zufolge stärker gestiegen als in anderen EU-Ländern. Zwischen 2004 und 2014 hat sich die Zahl der Beschäftigten, die trotz regelmäßiger Arbeit als arm gelten, auf 3,7 Millionen erhöht, so das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

- Dem DIW zufolge sind die Einkommen heute ungleicher verteilt als noch vor 20 Jahren.

- Fast 900.000 Menschen sind länger als ein Jahr arbeitslos, was ihre Chancen senkt, wieder in Lohn und Brot zu kommen.

- Die Altersarmut wächst laut Böckler-Stiftung seit 2009 kontinuierlich. Jeder Achte über 65 Jahren ist inzwischen betroffen.

Dass die Agenda 2010 auch viele Verlierer produziert hat, darüber klagen Sozialverbände schon seit langem. Es sind nicht zuletzt auch klassische SPD-Wähler, die mit den Schröderschen Reformen wenig Gutes verbinden - etwa Arbeitslose und Arbeiter. Sie sind teilweise erst zur Linkspartei abgewandert, viele liebäugeln inzwischen aber mit der rechtspopulistischen AfD. Zwar wird der SPD traditionell eine hohe Kompetenz beim Thema Soziales und soziale Gerechtigkeit bestätigt. "Im Bewusstsein der Mehrheit gibt es in Deutschland derzeit aber keine Zustände, die sehr kritisch sind und nach einer Kehrtwende verlangen", sagt Jung. "Die CDU ist auch kein Buhmann mehr beim Thema Soziales, da sie sich unter Merkel von ihren neo-liberalen Vorstellungen verabschiedet hat."

Für Forsa-Chef Güllner hängt der große Rückstand der SPD in den Wahlumfragen auch mit den handelnden Personen zusammen. "Das Problem der SPD ist, dass sie keine ökonomische Kompetenz mehr hat." Das sei früher ganz anders gewesen, so der erfahrene Meinungsforscher. Karl Schiller etwa gilt neben Ludwig Erhard als einer der bedeutendsten Wirtschaftspolitiker der Nachkriegszeit. Dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde das Etikett "Weltökonom" angeheftet. "Und Gerhard Schröder war der Genosse der Bosse, was nicht nur negativ gemeint war. Denn er gab den Leuten das Gefühl, sich zu kümmern." Der omnipräsente Sigmar Gabriel schließlich wechselte zu Jahresbeginn vom Wirtschafts- ins Außenministerium. Seinen Platz nahm Brigitte Zypries ein, die nach der Bundestagswahl in Rente geht.

Unter der Führung Merkels hat Deutschland die Finanz-, Schulden- und Euro-Krise besser gemeistert als die meisten anderen Industriestaaten. "Da ist der Eindruck hängen geblieben, dass man mit Merkel die Probleme schon irgendwie gelöst bekommt", sagt Jung. "Die Stimmung kann so beschrieben werden: Bei ihr weiß man, was man hat."

Clinton wurde 1992 mit seinem auf die Wirtschaft fokussierten Wahlkampf bekanntermaßen US-Präsident. Bei Merkel sieht es derzeit danach aus, dass sie mit dem Aufschwung im Rücken im Kanzleramt bleiben kann.

rtr