Herr Dr. Krämer, die große Koalition aus Union und SPD hat bei der Bundestagswahl gestern ein Desaster erlebt, die AfD triumphiert und zieht als drittstärkste Partei ins Parlament ein. Wie überrascht sind Sie vom Ausgang dieser Wahl?
Krämer: Grundsätzlich hat mich das Ergebnis nicht überrascht. Große Koalitionen stärken die Ränder des politischen Spektrums - zumal die Union in den zurückliegenden Jahren konservative Positionen geräumt hatte.
Aber wie erklären Sie sich den Absturz von Union und Sozialdemokraten. War die GroKo wirklich so schlecht?
Die Arbeit der Großen Koalition war durch Kompromisse geprägt; das Profil von Union und SPD verwischte. Das hat vielen Wählern offensichtlich nicht gepasst - zumal in der Flüchtlingspolitik viele Probleme ungelöst sind.
Der große Gewinner der Bundestagswahl ist die rechte AfD. In der Wirtschaft ist das Entsetzen über den Wahlerfolg der Alternative für Deutschland groß. Die AfD "schadet unserem Land", sagte gestern etwa Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Teilen Sie diese Sorge (bitte mit Begründung)?
Ich bin auch besorgt, aber trotzdem ist jetzt eine sachliche Analyse notwendig. Die Umfragen der Demoskopen deuten darauf hin, dass die meisten Menschen AfD gewählt haben, weil sie mit den anderen Parteien nicht zufrieden waren. Die Stärke der AfD spiegelt vor allem die Schwäche von Union und SPD wider. Aber Deutschland braucht zwei starke Volksparteien, um starke und handlungsfähige Regierungen zu haben.
Die SPD will keine Gespräche über eine mögliche, weitere Regierungsbeteiligung führen und in die Opposition gehen. Damit deutet derzeit vieles darauf hin, dass wir künftig von einer Koalition aus Union, FDP und Grünen regiert werden. Wie schwierig wird es für die Union, mit der FDP und den Grünen ein Bündnis zu schmieden?
In der Wirtschafts-, Finanz- und Europapolitik scheinen Kompromisse möglich. Der Knackpunkt bei den Verhandlungen dürfte eher bei der Flüchtlingspolitik liegen; hier liegen CSU und die Grünen meilenweit auseinander. Deshalb werden die Gespräche schwierig und viel Zeit in Anspruch nehmen - zumal sowohl die Grünen als auch die FDP ihre Mitglieder über einen Koalitionsvertrag abstimmen lassen werden. Auch 2013 hatte es bis Dezember gedauert, bis der Koalitionsvertrag stand und Angela Merkel vom Bundestag zur Kanzlerin gewählt wurde. Schneller dürfte es diesmal nicht gehen.
Welche wirtschaftspolitischen Themen muss eine mögliche neue Regierung jetzt am drängendsten anpacken?
Der Staat muss dringend mehr in Straßen, schnelles Internet und Bildung investieren. Hier ist trotz voller Kassen viel liegen geblieben. Trotzdem besteht wegen der Haushaltsüberschüsse Raum, die Steuern zu senken. Wichtig ist außerdem, dass das Zurückrollen der Schröder-Reformen aufhört. Deutschland darf nicht länger die Politik abwickeln, die maßgeblich zur heutigen wirtschaftlichen Stärke beigetragen hat. Das wird Hauptaufgabe der FDP sein.
Außerdem ist es wichtig, dass sie ihren europapolitischen Überzeugungen treu bleibt und verhindert, dass die Währungsunion nach den Plänen von Macron noch mehr eine Transferunion wird. Langfristig wird der Euroraum nicht durch mehr Umverteilung stabil, sondern nur dadurch, dass die Mitgliedsländer ihre Hausarbeiten machen und Eigenverantwortung für ihre Staatsfinanzen übernehmen.
Auch in der EU stehen wichtige Weichenstellungen an. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat für Dienstag bereits eine wichtige europa-politische Grundsatzrede angekündigt. Erwarten Sie - auch mit Blick auf das Abschneiden der AfD -, dass die künftige Bundesregierung künftig einen härteren Kurs in Brüssel fährt, etwa in der Flüchtlingspolitik?
Mit einer FDP in der Regierung und vielleicht sogar an der Spitze des Finanzministeriums dürfte Deutschland nur symbolische Schritte in Richtung Macron machen. Die FDP kann es sich nicht leisten, bei diesem wichtigen Punkt einzuknicken.
Was bedeutet der Wahlausgang für die Börsen? Droht nun ein weiterer Rückschlag an den Märkten und wo sehen Sie den Dax zum Jahresende?
Die Koalitionsverhandlungen werden schwierig, das sorgt für Unsicherheit. Aber damit hatten die meisten Anleger vor der Wahl gerechnet. Außerdem nehmen sie die FDP als wirtschaftspolitisches Korrektiv wahr. Alles in allem drohen wegen der Bundestagswahl keine Rückschläge an den Aktienmärkten. Auf Sicht der kommenden sechs bis neun Monate könnte der Dax sogar etwas zulegen, weil sich die gute Konjunktur zunehmend in steigenden Unternehmensgewinnen niederschlägt.